Außer sich: Roman (German Edition)
ist ja nicht dein Kind, hatte Therese einmal gesagt. Jemand anderes an meiner Stelle würde loslassen können. Sich distanzieren, sich umschauen nach einem neuen Leben, in dem andere Menschen wichtiger sind. Was muss das für eine tolle Liebe sein! Eine tolle Liebe und selbst wenn. Er kennt dich nicht mehr, es ist egal, ob du da bist oder nicht.
Sebastian abgeben im Heim und nie mehr erscheinen oder vielleicht ein-, zweimal im Monat. Später würden sich die Abstände vergrößern. Am Anfang hätte ich ein schlechtes Gewissen, nach einer Weile nicht mehr. Es würde ihm ja nichts fehlen. Zehn oder zwanzig oder dreißig Jahre hätte er noch zu leben. Aufgeben gilt nicht. Solang das Herz schlägt. Jahrzehnte im Sessel sitzen, Perlen klauben, brummen, blicklos auf Fernsehbilder starren, schlafen, essen.
Er würde warten – aber ich käme nicht. Er verstünde nicht, warum ich nicht käme, nie mehr käme.
Aber noch erinnerte ich mich, suchte, glaubte unter den Verwerfungen seines Wesens manchmal Spuren seiner Persönlichkeit zu entdecken, Rudimente seines Ichs.
Gehen wir nach Hause. Blaue Stunde, blanke, kalte Luft. Die Leute auf der Straße sahen uns nach. Manche blieben extra stehen. Als sei Sebastians Zustand ansteckend, wechselten einige die Straßenseite. Beinahe hatte ich mich schon daran gewöhnt.
Man gewöhnt sich an alles. Hatte Vater oft gesagt. Ein Spruch. Ich sah hoch zum dunkler werdenden Himmel und winkte ihm zu, winkte Vater zu, dort oben, im All, im Nichts. Was hatte er damit gemeint? Sein Leben als Familienvater und Lehrer, obwohl er doch eigentlich Musiker war? Künstler. War er unzufrieden gewesen? Mit sich oder mit anderen, mit uns?
Nach seinem Tod hatte Mutter stapelweise angefangene Notenschriften gefunden. Alle waren mit groben, wütenden Krakeln durchgestrichen. Hatte er sich an die fehlende Kraft, Kompositionen zu vollenden, gewöhnen müssen? Sich täglich abends hinzusetzen, um täglich von Neuem zu zweifeln und dann festzustellen, dass das, was man zu Papier gebracht hat, nichts taugt. Man viel zu müde ist, von Anfang an zu müde war, auch in Zukunft zu müde sein wird.
Bei den Briefkästen stand ein fremder Mann. Kaum noch jemanden, der hier wohnte, kannte ich richtig. Nicht einmal meine Nachbarin kannte ich richtig. Seit das Haus saniert worden war, wohnten Menschen mit viel Einkommen und wenig Zeit darin. Unten im Erdgeschoss warteten jetzt ein Kommunikationsbüro und eine psychoanalytische Praxis auf Kunden. Meistens war ich froh, niemandem zu begegnen. Wir fuhren mit dem Lift nach oben. Ich schloss die Tür auf. Licht an. Sebastian war blass. Müde, dachte ich, das ist gut so. Ich kochte Spaghetti. Für Sebastian schnitt ich sie in kleine Stücke, vermischte sie mit Tomatensoße zu einem Brei, damit er mit dem Löffel essen konnte. Wieder hatte er Appetit, wenn auch nicht so maßlosen wie letztes Mal. Der Arzt hatte inzwischen das Medikament durch ein anderes ersetzt.
Fertig? Ich wischte ihm den Mund ab. Er bekam Schluckauf. Alle paar Sekunden ließ er ein filmreifes Hicks hören. Ich musste lachen. Bastian, wie heißen die Bundestagsabgeordneten der Grünen? Deine fünf Lieblingsarchitekten? Hicks, hicks. Hilft nicht? Na komm, rüber zum Sofa. Er stolperte und hickste gleichzeitig, stieß mit dem Knie gegen das Fernsehmöbel. Die Schachtel mit den alten Videokassetten fiel zu Boden. Dafür war der Schluckauf weg. Sebastian saß in der Sofaecke und klapperte mit dem Kettchen. Ich sammelte die Videos auf. Las die Titel. Vor Urzeiten aufgenommene Filme: Antonioni,
Die rote Wüste. Züchte Raben
, Carlos Saura. Dazwischen: »Auf Erwins Datscha«. Das war lange her. Ich machte den Fernseher an, schob die Kassette in den Rekorder.
Wir sitzen um den Tisch vor der Datscha. Rolando mit Freundin, Sebastian und ich. Erwins zweite Frau Gloria filmt. Erwin grillt. Er schüttet Bier auf die Steaks. Eine weiße Wolke trübt einen Moment lang das Bild.
Erwin beißt in eine Bratwurst und verschluckt sich. Hustet, kotzt fast. Sebastian steht auf und geht zu ihm, klopft ihm auf den Rücken. Ich komme ins Bild und nehme Erwins Arme, hebe sie hoch. Der Ton ist nicht besonders gut. Geräusche sind zu hören, das Husten, Stimmen. Gloria zoomt auf Erwins knallrotes Gesicht, seine tränenden Äuglein. Bleibt da, sekundenlang. Dann schwenkt sie die Kamera auf uns. Sebastian und mich, wir diskutieren, was bei Schlundverstopfung zu tun sei, klopfen oder Arme hoch. Sebastian mit kurzen Hosen und einem
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