Außer sich: Roman (German Edition)
und wählte die Nummer. Es meldete sich ein Anrufbeantworter. Baukunstarchiv der Akademie. Ich nahm den Artikel und las ihn nochmals.
Außenseiter der sowjetischen Architektur
. Er beschrieb die Suche eines Fotografen nach Bauten (gegen Ende der UdSSR entstanden), die dem offiziellen Leitbild widersprachen oder es schlicht ignorierten. Der Artikel war interessant. Schon als ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte, erinnerte ich mich, hatte ich ihn nur schwer mit Yolanda in Verbindung bringen können. Welche Information hatte sich Sebastian von einem Architekturarchiv wohl erhofft? Ich dachte an seinen Vater, den ich nie kennengelernt hatte. Ich wollte mir Wein nachschenken. Die Flasche war leer.
Ich stellte mir vor, wie Sebastian mit einer anderen Frau schlief. Es tat nicht so weh, wie ich geglaubt hatte, es kam mir weit weniger entsetzlich vor als die Tatsache, dass er mit keiner Frau jemals wieder schlafen würde.
Am nächsten Tag fragte ich Erwin, ob er etwas wisse. Eberhard Lorenz, Sebastians Vater. Erwin wusste viel. Er war vernetzt wie kaum jemand sonst, kannte Hinz und Kunz, man fragte ihn um Rat, man vertraute ihm Geheimnisse an. Es war diese unwiderstehliche Mischung aus Kompetenz, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Erwin sah mich an und schüttelte den Kopf. Nein, nichts. Warum ich frage?
Ich rief das Archiv an und erkundigte mich, ob es einen Vorgang gegeben habe bezüglich Lorenz. Eberhard oder Sebastian.
Wann?
Niemand konnte sich erinnern, nichts war vermerkt.
Hatte Sebastian gehofft, etwas Gutes über seinen Vater zu erfahren? Etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Eine kleine Rebellion, ein widerspenstiges Bauwerk, einen Schritt in die Gegenrichtung.
Ich suchte im Netz, fand aber nur das schon Bekannte: Ausbildung zum Bauzeichner, Bauingenieurstudium, Diplom an der Schule für Architektur und Bauwesen in Weimar. Architekt VEB Industrieprojektierung. Ein paar Preise zu DDR-Zeiten. Nach der Wende Arbeit in einem privaten Büro in Berlin. Vor allem Tankstellen. Der Unfall. Eberhard Lorenz: schmale 0,5 lfm Manuskripte, Pläne, Zeichnungen, Korrespondenz.
Ich fragte mich, wer den Nachlass gesichtet und ans Archiv übergeben hatte. Sebastian? Wer sonst.
Jahre nach dem Tod seines Vaters erst waren die Akten aufgetaucht. Akten, die belegten, mit welcher Akribie dieser Mann Kollegen denunziert hatte. Nichts wies auf eine Not hin, auf Druck oder Zwang. Sebastian hatte mir an jenem Tag davon erzählt, er hatte mir Kopien einiger Berichte gezeigt.
Das Handy schnarrte. Eine SMS von David. Er entschuldigte sich. Er fragte, ob wir uns nicht bitte doch wiedersehen könnten, bitte! Er schrieb, ich liebe dich. Ich antwortete nicht.
Erwin streckte den Kopf zur Tür rein und fragte, ob wir essen gehen wollten, nur wir zwei. Ich nickte. Wir gingen um die Ecke zum italienischen Imbiss, der seit einiger Zeit von Türken geführt wurde. Früher waren wir oft hierhergekommen. Ein enger Raum, ein paar Tische nur, ein riesiger Plasmabildschirm, auf dem türkische Musikvideoclips liefen. Wir setzten uns ans Fenster, im Rücken das Lokal. Wir schwiegen. Alles voller Touristen, sagte Erwin. Ja, sagte ich, das wird immer schlimmer.
Hör mal, sagte er. Ich sah ihn an. Sebastian hat mich das Gleiche gefragt wie du vorhin. Er hat versucht, etwas über seinen Vater rauszufinden, etwas Gutes. Etwas, das seine Sicht auf ihn vielleicht hätte ändern können. Die Pizzen kamen. Ich tropfte Peperoncinoöl darüber, holte mir eine Cola aus dem Kühlschrank. Und, was hast du ihm gesagt? Kanntest du ihn eigentlich? Erwin nickte. Du kanntest ihn? Flüchtig. Ja, und? Erzähl doch mal. Lass dir doch nicht jedes Wort zur Nase rausziehen! Wir haben an einer Veranstaltung einmal zusammen am gleichen Tisch gesessen, begann Erwin. Auch später haben wir uns noch das eine oder andere Mal gesehen, paar Worte gewechselt. Und, wie war er?
Er hatte eine freundliche, stille Art, zuzuhören. In Gesprächen etwas steif vielleicht, manchmal erstaunlich naiv. Und er hatte gute Ideen, die er aber nicht verwirklichen konnte. Warum denn nicht, wenn er doch gespitzelt hat, fragte ich, da müsste er doch Möglichkeiten gehabt haben? So einfach war das nicht, sagte Erwin. Ich nahm diesen Unterton wahr, den manchmal auch Sebastian gehabt hatte. Die leichte Enttäuschung über Vorurteile bei Menschen, denen man eine differenziertere Sichtweise zugetraut hatte. Natürlich hatte er recht. Sebastian hatte recht gehabt. Ich wusste nichts von dieser Zeit. Ich
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