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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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geringelten Shirt. Seine Haare trug er in diesem Sommer lang, bis unters Kinn. Wie er sie mit der rechten Hand immer wieder über die Stirn nach hinten streicht, wie sie ihm immer wieder über die Augen fallen. Seltsam, ich erkannte ihn kaum wieder. Ich drückte auf Pause. Im Standbild war er jetzt im Halbprofil zu sehen, einen Arm erhoben. Da war ein Zug um den Mund, eine Art von strenger Entschiedenheit. Unerbittlichkeit, die Augen hingegen wirkten eher verzagt. Ich ging näher ran und weiter weg. Etwas stimmte nicht. Es war, als sähe ich diesen Mann zum ersten Mal. Vielleicht lag es am Video, weil alles leicht verzerrt war. Play. Die Datscha ist zu sehen. Meine Datscha, wie Erwin sie zärtlich nannte. Er hatte sie von einer Tante geerbt, als Kind hatte er oft die Ferien dort verbracht. Die Datscha ist ein ziemlich hässlicher Bungalow, umgeben von einem großen Garten, in dem nichts wächst, weil das Grundstück mitten im Wald liegt und der Boden bis in tiefere Schichten aus Sand besteht.
    Bastian. Dort, Erwin, du und ich. Auf Erwins Datscha. Gloria filmt. Erinnerst du dich an Gloria?
    Der Film brach ab, Flimmern, Rauschen.
    Sebastian schreckte hoch.
    Aber gleich ging es weiter. Tischtennis. Stimmt, wir haben an dem Tag noch Tischtennis gespielt. Das hohle Ping-Pong ist zu hören, Gloria versucht, mit der Kamera dem Ball zu folgen. Zu schnell, Striemen wischen durchs Bild. Rolando und Erwin stehen auf einer, Sebastian und ich auf der anderen Seite. Rolandos Freundin ist nicht zu sehen.
    Wie hieß sie noch? Bastian, wie hieß Rolandos Freundin?
    Gloria, hinter der Kamera, kommentiert das Spiel, lacht immer wieder dazwischen. Irgendwann, als sei ihr langweilig geworden, verlässt die Kamera das Spiel, geht ein Stück, versucht, den Sand zu bannen, der, vom Wind hochgewirbelt, in kleinen Fontänen über den Boden tanzt. Geht weiter, entfernt sich von uns. Jemand ruft, Gloria! Die Stimmen werden leiser, dafür nimmt das Rauschen des Windes zu. Offenbar muss sie über Baumstämme steigen. Das Bild ist wackelig. Bis es plötzlich stehen bleibt. Hoch fährt in die Wipfel der Bäume, dort verharrt. Sausen, Brausen. In der Mitte ein Stück Himmel. Es ist ein schöner Ausschnitt, dieses bewegte Muster aus Stämmen, Baumkronen und Wolken. Minutenlang. Bis Rufe das Rauschen übertönen, Gloria! Und dann Erwins Gesicht, feist, besorgt, das sich über die Kamera, über Gloria beugt. Gloria beginnt zu lachen. Erwin sagt etwas. Es klingt ärgerlich. Er nimmt ihr die Kamera ab, steht auf und filmt Gloria, wie sie auf dem Boden liegt und lacht. Sie ist wunderschön. Sie hat ganz dunkles langes Haar, das in einem Kranz um ihren Kopf gebreitet ist. Sie sagt, hör auf! Aber Erwin filmt weiter. Sie dreht den Kopf zur Seite und greift mit der Hand ins Objektiv.
    Sebastian war eingeschlafen. Sein Kopf lehnte an meiner Schulter. Ich schob ihn etwas von mir, um aufstehen zu können. Da wachte er auf.
    Ich brachte ihn zu Bett.
    Ich legte mich aufs Sofa, ließ die Zwischentür angelehnt, damit ich sofort hörte, wenn er nebenan unruhig wurde. Ich wälzte mich hin und her, fand keinen richtigen Halt in den weichen Kissen. Irgendwann döste ich wohl doch ein.
    Der Wind hat allen Sand aus Erwins Datschawald hinaus aufs freie Feld getrieben. Zu hohen Dünen über den Weg getürmt. Ist da überhaupt je ein Weg gewesen? Wellen, pulvrige Gischt wischt über die Kappen. Neben mir geht jemand. Er trägt ein geringeltes Shirt, er hat kein Gesicht. Wir kämpfen uns durch den knietiefen Sand. Dort eine Fläche großartiger, flüchtiger Ornamente, Windfinger zischen darüber hinweg. Die Sonne brennt. Ein schönes, grelles, gnadenloses Licht. Die Bäume verdorren zusehends. Unter uns verliert sich der Boden. Als sei die Welt ein gewaltiges Stundenglas, fließen wir mit dem Sand in die Tiefe.
    Ein schwerer dumpfer Knall. Sofort war ich hellwach. Aus dem Bett, hinüber, Licht an.
    Sebastian schlug seinen Kopf gegen die Wand. Immer und immer wieder. Als sei dies mein Schädel, spürte ich jäh den Schmerz, die harte Erschütterung im Gehirn. Ich fühlte die Haut aufplatzen, das Blut warm über die Stirn rinnen. Ich packte seine Handgelenke, riss ihn von der Wand weg. Ich drehte ihm die Arme auf den Rücken und hielt sie fest. Er schrie. Ich drückte ihn bäuchlings aufs Bett. Er war so dünn. Ich setzte mich auf ihn.
    Alles gut.
    Bastian, lass, beruhige dich.
    Er bäumte sich, er schrie, er heulte und klagte.
    Minuten vergingen, lang wie Stunden.
    Denk was

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