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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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Sonne.
    Ich trocknete Sebastian den Mund und ging hinaus, schloss sachte die Tür. Ich lag wach bis zum Morgen. Alles roch nach menschlichen Ausscheidungen, meine Hände, meine Haare. Ich. Das Fenster stand einen Spaltbreit offen. Von unten hörte man den dumpfen Lärm vom Leeren der Container. Das Zufallen der Haustür. Das Wegfahren des Müllwagens. Stille. Nach und nach drängte sich das erste Morgenlicht durch das dichte Gewebe der Vorhänge und ließ sich als zäher Dämmer im Zimmer nieder. Von ferne hörte ich Geigenspiel. Der Geigenbauer unten im Erdgeschoss arbeitete samstags, sonntags, immer. Er probierte wohl eine Geige aus, die zu reparieren war oder die, schon repariert, heute abgeholt werden sollte. Falsch, ganz falsch! Der Geigenbauer war längst ausgezogen, weil die Miete zu teuer geworden war. Ich hörte Töne, die nicht da waren. Töne von früher. Ja, früher hatte man das gehört oder vor lauter Gewohnheit schon nicht mehr gehört, wie der Geigenbauer die Instrumente gestimmt hat. Heller würde es heute nicht mehr werden. Das Wetter hatte gewechselt, es war wärmer geworden. Trotzdem waren meine Füße kalt. Eiskalt, besonders zwischen den Zehen. Auf dem Fensterblech nadelten Regentropfen, erst einzelne, es wurden immer mehr. Es prasselte, es schüttete. Ich versuchte, nicht zu hören, wie es draußen aussah. Ich versuchte mit aller Kraft, mir nicht vorzustellen, wie großartig normal unser Leben sein könnte. Vermutlich hätten wir ein Kind jetzt, Sebastian würde weniger arbeiten. Wir wären eine Familie. Auf dem Spielplatz sitzen. Jetzt plötzlich scheint dir das verlockend. Soso! Über mir hockte ein Gott, der sich ins Fäustchen lachte. Glück haben. Aber vielleicht soll man sich nicht Glück wünschen, sondern Unglück, Leid, Desaster. Habe ich etwas falsch verstanden? Leiden für die Freiheit, Leiden für Gerechtigkeit. Leiden für eine höhere Form des Daseins. Leiden für nichts und wieder nichts. Bat ich Gott um etwas und hatte ich bekommen, worum ich gebeten hatte, vergaß ich, mich zu bedanken. War er sauer, fühlte sich ausgenutzt? Vielleicht war er ja so ein kleinmütiger Greis, der den Menschen jeden Fehler übel nahm. Eine elende Krämerseele, ein Korinthenkacker. Oder womöglich sollte ich gezwungen werden, all das als Prüfung und die Prüfung als Chance zu sehen. Ich dachte an Juden und Armenier. Keine göttliche Hand, die sie beschützt hätte. Was zu lernen sollten Menschen auf solche Weise gezwungen werden?
    Man müsste an einen höheren Plan glauben, an eine Ordnung, die ich jedenfalls nicht verstehen kann. Eine Ordnung, die dazu da ist, nicht verstanden zu werden.
    Vielleicht hat nicht einer, der gut ist, Glück verdient, sondern einer, der immer blaue T-Shirts trägt.
    Vielleicht ist ein einzelnes Schicksal einfach nicht wahrnehmbar für so einen Gott, angesichts der Weite der Welt, der Dauer der Zeit.
    Vielleicht ist der Tod das große Los und nicht das Leben.
    Glauben hilft offenbar. Reiner, unschuldiger, felsenfester Glaube. Nicht Zweifel. Nicht die Frage nach Sinn.
    Oder Gott ist keine Instanz, die man zur Rechenschaft ziehen kann. Sähe man es so, wäre er ein Angebot: Glaube an mich, es kostet nichts, aber es macht das Leben leichter, es macht das Sterben leichter. Erwarte nichts von mir. Weder Gerechtigkeit noch Sinn.
    Niemand da, der Erbarmen hat, der dafür sorgt, dass sich etwas zum Guten wendet? Ich möchte so gerne an Wunder glauben. An Glück im Unglück, an Sinn im Unsinn.
    Wie viele Tausend Windeln Sebastian wohl schon verbraucht hatte, noch brauchen würde? Jeden Tag die Laken waschen. Jeden Tag mehrmals duschen. Während ich Sebastian das dritte Mal an einem Tag duschte, dachte ich an das Wasser, das woanders fehlte. In Wüstengegenden könnte sich niemand diese Hygiene leisten. Wo Wasser und Essen nicht für alle reicht, sind nutzlose Menschen ein Luxus, der anderen das Leben kosten kann.
    Es lebe das Nutzlose. Das Unproduktive. Menschen, denen man Leben kaum noch zutraut, werden gerettet und nutzlos zurückgelassen von einer Medizin, deren Credo Höher und Weiter heißt. Ohne die äußerste Leistungsfähigkeit dieser Medizin wäre Sebastian nicht mehr am Leben. Muss, was machbar ist, auch unbedingt gemacht werden?
    Wenn es eng wird. Gesetzt den Fall, es würde eng.
    Zählt auch bei uns ein heiler Mensch mehr als ein nicht heiler? Ein junger mehr als ein alter Mensch? Wer A sagt, muss auch B sagen. Oder etwa nicht?
    Ach, Bastian, lass uns doch heute mal

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