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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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konnte einfach nicht wissen, was es bedeutet hatte, in diesem Staat zu leben. Am besten schweigen. Auch er ist bespitzelt worden, sagte Erwin, von einem guten Freund. Was? Hat er das je erfahren? Ich glaube ja. Dann hat er sich deswegen umgebracht? Erwin zuckte wieder die Schultern. So genau kann man das, glaube ich, nicht sagen. Offenbar gab es ja keinen Abschiedsbrief. Wusste Sebastian davon? Ja, nachdem ich es ihm erzählt habe. Davor nicht? Seltsam. Und wie hat er reagiert? Schwer zu sagen. Er hat mich lange angesehen, zweifelnd und irgendwie traurig. Vielleicht war er froh, dass alles plötzlich nicht mehr so klar zu sein schien. Dann hat er nur gesagt, dass das jetzt im Grunde auch keine Rolle mehr spiele.
    Erwin legte mir seinen kurzen, weichen Arm um die Schultern. Lass uns von was anderem reden. Wir redeten aber nichts anderes, sondern schwiegen und sahen auf die Straße hinaus. Die Pizza war mir jetzt doch zu scharf. Ich fragte mich, warum mir Sebastian nichts erzählt hatte.

3
    Bastian, sag!
    Bist du glücklich, einigermaßen glücklich wenigstens? Bist du zufrieden mit dir und den Dingen, die du nicht haben musst? Oder fragst du dich so etwas gar nicht? Bist du frei von Schöner, Höher, Weiter? Froh, keine Häuser mehr bauen zu müssen? Ist dir jetzt anderes wichtiger? Was ist dir jetzt wichtig?
    Fehlt dir etwas oder fehlt dir nichts?
    Bist du glücklich mit den einfachsten Dingen?
    Glücklich mit deiner neuen Familie im Heim? Habt ihr dort, in diesem weltabgewandten Haus, vielleicht ein Wissen, das uns längst abhandengekommen ist? Lebenskunst. Gerne würde ich glauben, unter euch herrschten andere Gesetze. Ihr könntet zeigen, was wir gerne zeigen würden, aber zu zeigen verlernt haben. Starke Gefühle. Liebe und Hass. Kompromisslos und rein, ohne jede Berechnung. Lebensspiel. Kuriose, nicht menschliche Geschöpfe, die zutiefst Menschliches so echt, so ohne Falsch darzustellen imstande sind.
    Dann aber sehe ich deine neuen Freunde vor dem Fernseher sitzen. Ich sehe sie streiten um den besten Platz. Ich höre sie für einen kleinen Vorteil gemein die beste Freundin verpetzen. Einer umarmt einen, der nicht umarmt werden will, zwingt ihn, die Umarmung zu ertragen. Das Recht des Stärkeren. Ja, sie sind rein und roh und hemmungslos egoistisch wie Kinder, die noch nicht gelernt haben, die Freiheit der anderen zu achten.
    Bastian, wo bist du zu Hause?
    Tage und Nächte zusammen verbringen. Wachen und schlafen. Wie immer, wenn ich Urlaub hatte, holte ich Sebastian nach Hause. Seit unserem Ausflug an die Ostsee waren wir nicht mehr fort gewesen. Stattdessen wanderten wir durch die Straßen der Stadt, alle Winkel waren neu zu entdecken. Ich versuchte zu sehen, was er sah. Ich versuchte ihm zu zeigen, was ich sah. Nie würde das ein Ende haben. Hinter Häusern tauchten Häuser auf, Parkplätze, Parks. Unermüdlich unbekannt. Nie gesehene Orte.
    Wir stiegen auf den Hügel im Park. Das Heizkraftwerk in Rummelsburg goss eine Fahne aus flüssigem Blei in den Himmel, die Henselmann-Türmchen winkten, eins dem anderen.
    Bastian, dort, ein Flugzeug.
    Wie es im klaren Himmel seine Spur zieht. Kondensstreifen.
    Kondensss-streiffffen.
    Und dort der nächste Flieger quer. Ein Kreuz am Himmel, ein Kondensstreifenkreuz. Crossroads. Das bedeutet nichts, ein Kreuz am Himmel, nur ein Kreuz. Sonst nichts. Bastian, schau, es löst sich auf, verfranst an den Rändern, wird krumm und schief. Ein anderes Flugzeug zieht eine neue Spur durch das kaputte Kreuz.
    Schau dort, die Krähe, die kräht. Kraah-Kraah.
    Ach, was red ich da.
    Meine Hand lag in der seinen. Nein, umgekehrt, seine Hand lag in der meinen. Ich drückte seine Hand. Fester. Ich grub meine Fingernägel in seinen Handrücken. Nichts. Fester. Bis er anfing, mit dem Kopf zu schlenkern. Es reichte jetzt, wir konnten nach Hause gehen. Wurde er unterwegs zu müde, setzte er sich einfach auf den Boden und dann ging nichts mehr.
    Musste ich das Früher vergessen? Alles vergessen, wie Sebastian alles vergessen hatte? Nicht mehr vergleichen, also keinen Mangel mehr spüren? Ihn so nehmen, wie er jetzt eben war? Erinnerte ich mich nicht mehr an unser Früher, wäre er nur ein Fremder. Ein Fremder, der mich nichts anginge. Es gäbe keinen Grund, sich um ihn zu kümmern. Machte es einen Unterschied, ob das, was Sebastian passiert war, einem Ehemann oder dem eigenen Kind passierte? Dem eigenen Fleisch und Blut oder einem Menschen, mit dem man aus freien Stücken das Leben teilt. Er

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