Außer sich: Roman (German Edition)
Schönes, dachte ich, denk an was anderes. An früher, an die Avenir, an Thomas, an uns, an den Mond, der aufgeht. Der über dem Wald steht. Schwarz und schweiget.
Ich biss mir auf die Lippen.
Nach und nach wurden die Schreie leiser. Gingen über in ein Wimmern. Er atmete schwer.
Ich lockerte den Griff, rutschte vom Bett. Half ihm, sich aufzusetzen. Sein Körper verkrampfte sich von Neuem. Er würgte und erbrach sich dann mehrmals. Ich hielt ihm die Stirn, wartete, bis der Brechreiz nachließ.
Mit einer Hand löste ich den Schlauch des Nachtbeutels vom Katheter. Komm, Bastian, komm ins Bad. Gehts, schaffst du das? Das war wieder ein kritischer Moment. Aber er stand auf und folgte mir. Ich zog ihm den Pyjama aus. Er ließ es geschehen. Seine Pupillen hingen rechts oben, halb von den Lidern verborgen. Ich schob ihn unter die Dusche, drehte das Wasser auf. Prüfte, ob die Temperatur richtig war. Lenkte den Strahl vorsichtig von meiner Hand auf Sebastians Haut an den Beinen. Er zuckte zusammen. Ich zuckte zusammen. Es stank. Ich ließ das Wasser den bereits angetrockneten Kot aufweichen, machte zwischen seinen Beinen sauber. Drehen und wenden, die Arme hingen jetzt schlaff neben dem Körper. Aus der Platzwunde an seiner Stirn sickerte helles Blut.
Ich trocknete ihn ab. Desinfizierte die Wunde, verband sie. Ich nahm eine Windel aus dem Schrank, einen frischen Pyjama. Obwohl er jetzt ruhig war, träufelte ich zehn Tropfen seines Medikaments auf einen Löffel und schob ihn ihm in den Mund. Ich versuchte immer, mit möglichst wenig Medikamenten auszukommen. Das war ein Fehler, ich weiß. Auch den Polsterhelm sollte ich ihm aufsetzen, selbst nachts.
Er saß im Sessel und schaukelte vor und zurück.
Ich wischte das Erbrochene auf.
Ich bezog das Bett neu.
Vor und zurück, vor und zurück.
Komm, leg dich wieder hin. Zeit zu schlafen!
Dürfte er doch nur für immer so ruhig daliegen, schlafen so friedlich. In unserem Ehebett.
Bastian, ich würde dich so gerne fragen. Wenn du wünschen könntest. Wenn du noch wollen würdest. Wenn du noch wüsstest, ob du das Leben liebst oder nicht.
Aber jetzt bestimmen andere den Lauf des Spiels. Ein Häufchen Lumpen auf dem Bühnenboden. Kommt einer, der es gelernt hat, fasst die losen Glieder, das Holzkreuz, die Fäden, spielt. Wie Licht und Schatten, Bewegung und Stimme dem Lumpenbündel Leben geben. Haltung und Würde. Das Gesicht grob geschnitzt aus Lindenholz, angemalt mit Farbe. Ich könnte wetten, der Holzmund hat Worte geformt, hat Text gesagt. Lacht, wird im nächsten Augenblick wütend, furchtbar zornig. Schwören könnt ich, der Mund hat vor einer Sekunde noch liebevolle Dinge geflüstert. Die Holzhände noch sanft andere Holzhände gestreichelt. Das Spiel gerät aus den Fugen. Das Puppengeschöpf hadert mit den Fäden, es zerrt und schüttelt und verheddert sich, gebunden, gefesselt von den gleichen feinen Schnüren, die vordem so wundersam für Leben sorgten.
Ich will dich beruhigen und verliere das Gefühl für die Zerbrechlichkeit deines schmalen Körpers. Bastian. Mit zu viel Kraft halte ich deine dünnen Handgelenke fest. Bis du ruhig bist, bis du endgültig schläfst.
Mit dem letzten Sand rutschen wir durch den Hals des Stundenglases in die Tiefe. Finden uns wieder auf dem Kamm einer Düne. Deine Nasenflügel vibrieren leicht, schnuppern einem Duft hinterher. Was ist das, fragst du, wo sind wir? Woher soll ich das wissen? Ich sehe nur die Weite vor mir, die Wüstenweite, die rot flimmernde Luft, die Spiegelungen. In die Hölle sind wir geraten, denke ich, das ist nicht der Himmel, das kann nur die Hölle sein. Du aber gräbst dich frei und folgst dem Geruch, dem Duft in deiner Nase. Du blickst zurück mit lachenden Augen, mit Zuversicht darin. Komm, sagst du, nur keine Angst jetzt, vertrau mir. Dort, schau! Erst sehe ich nichts, dann sehe ich eine Fata Morgana. Palmen, und wo Palmen sind, gibt es auch Wasser! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, sagst du und beginnst darauf zuzugehen. Federnde, kraftvolle Schritte. Ich versuche, dich einzuholen. Bastian, rufe ich, das ist nur eine Fata Morgana. Er hört nicht, er wartet nicht auf mich, er geht allein. Noch einmal blickt er zurück, winkt, dann verschwindet er im Palmenwald. Kurz darauf höre ich Wasser platschen und ein lautes Juchzen. Ich gehe schneller, ich renne, aber die Oase rückt in immer weitere Ferne. Sie löst sich auf in der flirrenden Hitze einer wahnsinnig gewordenen, gleichgültigen
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