Aussicht auf Sternschnuppen
goldenen Punkte auf seiner Iris zählen und die winzigen Sommersprossen auf seiner Nase. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und mein Herzschlag kam für einen Moment ins Stolpern. Nils’ Gesicht begann zu verschwimmen. Himmel! Ich war doch noch betrunken. Schnell schloss ich die Augen. Doch das machte es noch schlimmer, denn ich spürte seinen warmen Atem über meine Wange streichen. Und als ich die Augen wieder öffnete, sah er mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Seine Finger strichen über meinen Handrücken und die Seife fiel zu Boden.
Das war der Moment, in dem ich ihn küsste.
Nils zuckte kurz zusammen. Doch dann erwiderte er überraschend zart und vorsichtig meinen Kuss. Seine Lippen waren fest und die Stoppeln seines Dreitagebarts kratzten an meiner Mundpartie. Ich traute mich kaum zu atmen. Der Kuss schmeckte nach einem Hauch von Tabak, nach Kaugummi, nach mehr. Nach viel mehr.
Ich presste mich näher an ihn heran und wollte meine Arme um seinen Hals schlingen. Doch Nils wich brüsk zurück, fast so, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Abrupt öffnete ich die Augen wieder. Doch er hatte sich bereits abgewandt.
„Wir sollten das nicht tun“, sagte er ohne mich anzusehen. „Leg dich ins Bett und versuch’ zu schlafen!“
Meine Unterlippe begann zittern und so schnell ich konnte, verkroch mich unter meiner Decke. Nach einigen Augenblicken löschte Nils das Licht und ich hörte, wie er sich vor dem Ende meines Bettes niederließ.
Was war nur in mich gefahren? Warum hatte ich mich zu einer derart absurden Tat hinreißen lassen? Den Schauspieler verführen zu wollen. Ein weiterer Strich auf seiner Eroberungsskala zu sein. Wie peinlich! Wie erbärmlich! Ganz abgesehen davon, dass ich Giuseppe fast untreu geworden wäre. Ich biss in das Kopfkissen, um mein Schluchzen zu ersticken.
Bestimmt eine halbe Stunde lang lauschte ich Nils’ gleichmäßigen Atemzügen, bevor ich selbst in einen unruhigen Schlaf fiel.
Ich wurde von einem vorwitzigen Sonnenstrahl geweckt, der sich durch einen Schlitz in der Jalousie bis an mein Bett gekämpft hatte. Er kitzelte mich so beharrlich an der Nase, dass ich schließlich genervt die Augen öffnete.
Und schon war sie da, die grausame, furchtbare, unendlich peinliche Realität! Im Schnelldurchlauf spulte sich der gestrige Tag vor meinem geistigen Auge ab: die SMS, meine unfreiwillige Fahrgemeinschaft, der Schlüssel-Anschlag, die Sternschnuppen am Gardasee und … der Kuss.
Oh Gott! Ich sollte versuchen, noch einmal einzuschlafen. Vielleicht hatte ich Glück und würde in meinem richtigen Leben wieder aufwachen! In dem Leben, in dem der Kauf einer knallroten Strumpfhose das Verrückteste war, was ich in den letzten zwei Jahren getan hatte. Schnell kroch ich ein wenig tiefer unter die Decke und kniff die Augen fest zusammen. Aber natürlich nutzte es nichts. Ich befand mich bedauerlicherweise in dem einzigen Leben, das ich hatte.
In Filmen sah man immer wieder, dass sich die Hauptdarsteller nach einer durchzechten Nacht an nichts mehr erinnern konnten. In Love Vegas hatte Cameron Diaz zum Beispiel erfolgreich verdrängt, Ashton Kutcher geheiratet zu haben. In Hangover hatten Bradley Cooper und Co vergessen, dass sie Mike Tysons Tiger geklaut hatten. Aber bei mir musste es natürlich anders sein! Der sanfte, alkoholgeschwängerte Schleier der letzten Nacht war weg und machte Platz für die Wirklichkeit, die nun wenig attraktiv und gestochen scharf auf mich einprallte. Und eines meiner Probleme befand sich nicht weniger als 30 Zentimetern von meinen Füßen entfernt. Oder etwa nicht?
Ich hielt den Atem an und lauschte in die Stille hinein, konnte aber nur das Gurren einer einsamen Taube hören. Unauffällig robbte ich mit dem Oberkörper aus dem Bett heraus, um einen Blick auf meinen Mitbewohner zu erhaschen. Doch die Schwerkraft war stärker und ich plumpste unsanft auf den Boden. Ich Tollpatsch! Jetzt war er bestimmt wach. Starr blieb ich in meiner Position liegen. Doch unter der Wolldecke regte sich nichts. Langsam kroch ich einen Meter nach vorne. Der Schlafplatz vor meinem Bett war leer. Ruckartig setzte ich mich auf und wurde von meinem Kopf sofort an die zwei oder drei Flaschen Rotwein erinnert, die ich gestern fast allein getrunken hatte. Doch ich widerstand dem Drang, mich wieder zurückfallen zu lassen, und kam vollständig in die Vertikale. Suchend blickte ich mich um. Vielleicht war er im Bad? Ich schob die Tür auf. Leer!
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