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Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Grenville
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seinem Titel anreden ließ. Vielleicht sollte er Silk bitten, ihn als eine Art Botschafter zu begleiten.
    Sir, Leutnant Rooke scheint die Gesetzmäßigkeiten der Sprache der Eingeborenen entschlüsselt zu haben!
    Genau genommen würde es gar kein »scheint« geben, aber eine gewisse Bescheidenheit stand einem bloßen Leutnant wohl an. Wenn der Gouverneur ihm erst einmal seine Aufmerksamkeit schenkte, würde Rooke schon seine Stimme finden.
    Sir, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich nunmehr in der Lage bin, mich mit den Eingeborenen auf eine Weise zu unterhalten, die den Beginn eines fruchtbaren Umgangs miteinander ermöglicht .
    Da würde der Gouverneur staunen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie sich auf diesem Gesicht Begeisterung, Bewunderung und Hochachtung widerspiegelten, aber was könnte er anderes empfinden? Rooke würde dem Gouverneur nicht nur die Mittel präsentieren, mit deren Hilfe dieser seine eigenen Ambitionen in New South Wales würde verwirklichen können, sondern etwas viel Bedeutenderes. Der Gouverneur würde der Erste sein, der von einer Erweiterung des bisherigen Weltwissens erfuhr, von Erkenntnissen, die fast so spektakulär waren wie die Galileos oder Keplers. Die Erde dreht sich um die Sonne. Die Schwerkraft hat eine unendliche Reichweite . Die Entdeckungsreise, die er gerade angetreten hatte, war tatsächlich von vergleichbarer Tragweite; es war eine Reise nicht bloß in die Sprache einer bis dahin unbekannten Menschenrasse hinein, sondern in den von ihr bewohnten Kosmos: wie ihr Zusammenleben organisiert war, welche Götter sie verehrten, ihre Gedanken und Hoffnungen, ihre Ängste und Leidenschaften.
    Nach einem solchen Wissenssprung würde die Welt nicht mehr dieselbe sein wie zuvor.
    ✳
    Das erste Problem war nicht die Bedeutung der Wörter, sondern die Musik: Wie sollte man diese fremden Laute in die gängigen sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets übertragen? Sich die Vorgehensweise zu überlegen, war, wie einen Muskel zu dehnen, der lange nicht beansprucht worden war.
    Rooke blätterte die erste Seite des Notizbuchs um. Die ersten Eintragungen waren nur ein Einstieg gewesen, aber so gedachte er nicht weiterzumachen. Die einladend leere zweite Seite teilte er in vier Spalten ein: Buchstabe. Name. Klang. Englische Entsprechung .
    Freudige Erregung durchfuhr ihn, etwas Körperliches, eine Vorfreude, die mit Appetit vergleichbar war.
    Er erinnerte sich an etwas, woran er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, seine alte Ausgabe von William Lilys Grammatik der Lateinischen Sprache mit dem abgegriffenen rötlichbraunen Buchdeckel, den dunklen Wolken ähnelnden Wasserflecken und dem sich lösenden Buchrücken – sein Vater hatte den Band auf einem Büchertisch in Southsea entdeckt und billig erworben – und dem Holzschnitt als Frontispiz, der Menschen darstellte, die mit großartigen Gebärden Obst pflückten.
    Entschlossen blätterte er Seite um Seite des Notizbuches um und überschrieb nach dem Muster von Lilys Lateinbuch jede mit einem Buchstaben des Alphabets: Sprache der Eingeborenen – Englisch , Englisch – Sprache der Eingeborenen .
    Anschließend nahm er sich ein zweites Notizbuch und schrieb auf das Vorsatzblatt: Grammatische Formen der Sprache von New South Wales . Wörter waren gut und schön, aber mit Wörtern allein blieb man immer ein Kind, das die Namen der Dinge herauskrähte. Die Grammatik war das Getriebe, das die Wörter anwendbar machte.
    Am Anfang würde er sich auf Tätigkeiten beschränken müssen, die man einander vormachen konnte: essen, gehen oder laufen, trinken, gähnen, kriechen. Diese Menschen hier mochten einem zwar fremd sein, aber gehen und trinken, essen, gähnen und kriechen mussten sie auch.
    Er sollte besser ganz bescheiden anfangen, mit dem Indikativ: Ich esse. Du isst. Er, sie, es isst . Weil man ohne Vergangenheitsform oder Zukunft nicht sonderlich viel ausdrücken konnte, sollte er möglichst auch diese Formen herausbekommen: Ich werde essen, du wirst essen. Ich habe gegessen, du hast gegessen . Die Befehlsform – Iss! – war ebenfalls nützlich, deshalb musste er auch sie herausfinden.
    Auf die linke Hälfte der Seite schrieb er den englischen Begriff. Neben jedem Eintrag war Platz für die Entsprechung in der unbekannten Sprache, systematisch ein Wort nach dem anderen. Auf die gegenüberliegende Seite schrieb er die Überschrift Weitere Flexionsformen desselben Verbs, in der Hoffnung, noch fehlende Formen in

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