Auszeit
Traum: Er ging mit Gott am Strand des Meeres spazieren. Am Himmel zogen Szenen aus seinem Leben vorbei, und für jede Szene waren Spuren im Sand zu sehen. Als er nun auf die Fußspuren im Sand zurückblickte, sah er, dass manchmal zwei, manchmal aber nur eine da war. Er bemerkte weiter, dass diese |48| eine Spur zusammenfiel mit den Zeiten größter Not und Traurigkeit in seinem Leben.
Deshalb fragte er den Herrn: »Herr, ich habe bemerkt, dass zu den traurigsten Zeiten meines Lebens nur eine Fußspur zu sehen ist. Du hast aber versprochen, stets bei mir zu sein. Ich verstehe nicht, warum du mich da, wo ich dich am nötigsten hatte, allein gelassen hast.«
Da antwortete der Herr: »Mein lieber Sohn, ich habe dich lieb und würde dich niemals verlassen. An den Tagen, an denen du am meisten gelitten hast und mich am nötigsten brauchtest – da, wo du nur eine einzige Fußspur siehst –, das war an den Tagen, an denen ich dich getragen habe.«
Wenn ich mit meinem fünfjährigen Sohn beim Wandern bin und er müde wird, kommt er immer wieder an und sagt ganz einfach: »Papa, tragen!« Und selbstverständlich geht er davon aus, dass ich ihn hochnehme und weitertrage, was ich auch tue, wenn ich echte Erschöpfung und nicht nur Faulheit erkenne.
Auch wir wollen getragen werden, wenn wir erschöpft sind, wenn uns der Weg zu schwer wird oder wir nicht mehr weiterwissen. Wenn wir erwachsen sind, stehen unsere »Papas« dafür meist nicht mehr zur Verfügung, und es fragt sich, was uns dann tragenden Halt geben kann. Im Außen ist dieser Halt selten zu finden, allenfalls bei nahestehenden Menschen, doch auch die können einen nur stützen und Geborgenheit geben. Wieder auf die Beine kommen muss jeder selbst. (Mehr zu diesem Aspekt finden Sie im Kapitel »Probleme lösen«, S. 225.) Und die Kraft hierzu kommt meist nur von innen, aus dem Raum, wo ein gläubiger Mensch Gott erfährt und ein anderer seine Mitte und seine Orientierung findet.
|49| Fragen zum Nachdenken
Was gibt mir in Krisenzeiten Halt und hat mich in schweren Zeiten getragen?
Was kann ich in guten Zeiten tun, um mich auf schwere Zeiten vorzubereiten?
Kann ich anderen Menschen Halt geben? Wem und auf welche Weise?
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|51| Erwartungen übertreffen
Im Quellbuch unserer Kultur, in der Bibel, genau genommen im Neuen Testament stößt man als Leser auf Aussagen Jesu, die einem äußerst radikal, ja geradezu lebensfremd erscheinen können, so hoch ist der Anspruch, der da an uns Menschen gestellt wird: Wenn uns einer auf die rechte Wange schlägt, sollen wir ihm auch die Linke hinhalten; von dem, was uns rechtmäßig zusteht, lassen, auch wenn es uns zu Unrecht genommen wird; unsere Feinde sollen wir nicht hassen, sondern lieben, und:
Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, so gehe nicht nur eine Meile, sondern noch eine weitere mit ihm.
Matthäus 5, 41
Lassen Sie uns die Aufmerksamkeit auf die letzte Aussage beschränken – diese allerdings dabei aus ihrem Gesamtkontext verstehen. Zwei Aspekte scheinen dabei von entscheidender Bedeutung, wenn wir daraus praktisch umsetzbare Impulse für unser heutiges Alltagsleben ableiten wollen.
Erstens begegnen wir hier einem Idealbild , das zu leben wohl nur die wenigsten und auch das nur in wenigen Momenten ihres Lebens in der Lage sind. Wer sich – wie man es von Jesus annimmt – im Zustand völliger Liebe befindet, mag dazu fähig sein. Der normale Mensch, sei er nun Christ oder nicht, wird, wenn er sich angegriffen fühlt, aufgrund der bloßen Struktur |52| seines Nervensystems und der sofortigen »Machtübernahme« der emotionalen und »primitiven« Steuerungszentralen im Gehirn in den meisten Fällen in Verteidigungshaltung gehen: Er wird sich schützen (statt die andere Wange hinzuhalten), sein Eigentum beanspruchen (statt es aufzugeben), negative Gefühle (statt Liebe) gegen Feinde hegen und mit allen Mitteln versuchen, selbst die erste geforderte Meile zu vermeiden, geschweige denn, freiwillig noch eine weitere mitzugehen. Hier begegnet man einem Grundproblem vieler Aufforderungen des Neuen Testaments: Sie konfrontieren uns mit einem extrem hohen Anspruch, den zu verwirklichen selbst sogenannten Heiligen kaum gelingt. Für den »Normalverbraucher« erscheint er daher ähnlich unerreichbar, als würde uns Reinhold Messner auffordern, mit ihm den Mount Everest zu besteigen. Die naheliegende Reaktion von vielen ist zu resignieren: Das ist ja eh’ nicht zu schaffen, dann lass
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