Auszeit
ich es lieber gleich ganz. Manche wenden sich infolgedessen gleich von allem ab und schütten damit womöglich das Kind mit dem Bade aus.
Doch wie lässt sich das Kind retten? Wie können wir von diesen vermeintlich übermenschlichen Empfehlungen Jesu doch noch etwas hinüberretten in unseren normalen Alltag? Vielleicht, indem wir zunächst den Anspruch aufgeben, das ganze Ideal zu verwirklichen, und erkennen, dass es sich schon lohnt und viel wert ist, wenn man sich schrittweise ab und zu in Richtung dieser Worte bewegt. Wenn man gewissermaßen versucht, die altgewohnten, archaischen und durchaus menschlichen Reaktions- und Verhaltensmuster so oft es einem gelingt durch kleine Handlungen im Sinne dieses neuen Geistes zu ersetzen – eines Geistes, der geradezu das Gegenteil von dem zu fordern scheint, was man als »normaler Mensch« tun würde.
Zweitens setzt das natürlich voraus, dass man diese Anweisung auch für sich selbst als sinnvoll erachtet. Wofür soll das denn gut sein, die »Extrameile« zu gehen? Ursprünglich hatten |53| die Römer im besetzten Palästina das Recht, von den Juden zu fordern, sie als Wegweiser oder auch als Lastenträger eine gewisse Strecke zu begleiten. Jesus fordert sie auf, freiwillig sogar mehr zu tun, als man von ihnen erwartet. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird dies bei dem um Hilfe fragenden Römer Verwunderung, wenn nicht sogar eine positive Reaktion ausgelöst haben. Mehr zu bekommen als erwartet – wer wird davon nicht in irgendeiner Weise angenehm überrascht? Damals wie heute, im persönlichen Bereich wie im beruflichen Kontakt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie erstaunt ich war, als ich meinen Murnauer Kfz-Händler bei einem technischen Defekt aus München anrief und er mir sofort anbot, den Wagen bei mir holen zu lassen und mir für die Dauer der Reparatur kostenfrei einen Ersatzwagen dazulassen – immerhin liegen mehr als 50 Kilometer zwischen den beiden Orten. Die Folge: Ich war angenehm überrascht und habe seitdem, wenn es irgendwie ging, jede Wartung bei ihm durchführen lassen und auch den nächsten Wagen wieder von ihm erworben.
Mehr tun als erwartet, im Kleinen wie im Großen, kann sich lohnen, und sogar noch mehr, wenn man es nicht aus bloßer Berechnung tut. Die unerwarteten Blumen für die Partnerin, der Zusatzservice gegenüber dem Kunden, großzügige Hilfsbereitschaft gegenüber einer bedürftigen Person: Wann immer wir aus freien Stücken mehr geben als erwartet, leben wir etwas von dieser eigenartigen und doch zutiefst sinnvollen Botschaft – zum Nutzen anderer, aber gleichzeitig auch zu unserem eigenen Wohlergehen.
Fragen zum Nachdenken
Wo erlebe ich selbst, dass Idealanforderungen mich eher lähmen als beflügeln?
|54| Warum kann es sinnvoll sein, bisweilen die »Extrameile« zu gehen?
Wo könnte ich in meinem privaten wie auch beruflichen Alltag mehr geben als erwartet – im Kleinen wie im Großen?
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|55| Die Macht der Einstellung
Der Prophet Mohammed kam mit einem seiner Begleiter in eine Stadt, um zu lehren. Bald gesellte sich ein Anhänger seiner Lehre zu ihm: »Herr, in dieser Stadt geht die Dummheit ein und aus. Die Bewohner sind halsstarrig. Man möchte hier nichts lernen. Du wirst keines dieser steinernen Herzen bekehren.«
Der Prophet antwortete gütig: »Du hast Recht!«
Bald darauf kam ein anderes Mitglied der Gemeinde freudestrahlend auf den Propheten zu: »Herr! Du bist in einer glücklichen Stadt. Die Menschen sehnen sich nach der rechten Lehre und öffnen ihre Herzen deinem Wort.«
Mohammed lächelte gütig und sagte wieder: »Du hast Recht!«
»Oh Herr«, wandte da der Begleiter Mohammeds ein. »Zu dem ersten sagtest du, er habe Recht. Zu dem zweiten , der genau das Gegenteil behauptet, sagst du auch, er habe Recht. Schwarz kann doch nicht weiß sein.«
Mohammed erwiderte:
»Jeder Mensch sieht die Welt so, wie er sie erwartet. Wozu sollte ich den beiden widersprechen. Der eine sieht das Böse, der andere das Gute. Würdest du sagen, dass einer von den beiden etwas Falsches sieht, sind doch die Menschen hier wie überall böse und gut zugleich. Nichts Falsches sagte man mir, nur Unvollständiges.«
|56| Jeder Mensch sieht die Welt so, wie er sie erwartet, das heißt, er macht in der Regel die Erfahrungen, die seiner Einstellung entsprechen. Die Sicht auf die Dinge ist, wie psychologische Forschungen vielfach bewiesen haben, für das, was wir innerlich erfahren, viel entscheidender als die Dinge,
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