Auszeit
genannt, das lief aufgeregt gackernd am Zaun entlang, denn es wollte zu dem Futter, das auf der anderen Seite lag. Klara war schon dem Verhungern nahe, und so versuchte sie alles Mögliche: Sie probierte über den Zaun zu fliegen, doch er war zu hoch. Sie suchte eine Lücke, doch es gab keine. Sie stieß mit aller Kraft gegen den Zaun, doch er gab nicht nach. So rannte sie in immer größerer Panik hin und her, bis sie tot umfiel . – Das Einzige, was sie nicht getan hatte, war, sich ein paar Meter vom Futter und dem Zaun zu entfernen. Denn dann hätte sie entdecken können, dass der Zaun nach 10 Metern Breite aufhörte …
Distanz zu den Dingen, insbesondere in Angelegenheiten, die einen negativ bewegen, kann eines der besten Selbststeuerungsinstrumente sein, die ein Mensch in seinem strategischen Repertoire |140| entwickeln kann. Wie oft sind wir, wie Klara das Huhn, so tief in ein Problem verstrickt und emotional involviert, dass wir die einfachsten und manchmal sogar nächstliegenden Lösungen nicht finden können. Erst mit etwas Abstand gewinnen wir wieder einen klaren Kopf, und damit den Überblick und Durchblick, um die geeignete Lösung zu entdecken. Nicht umsonst sagt der Volksmund: »Wir müssen uns von den Dingen lösen, um zu Lösungen zu finden.«
Diesen heilsamen Abstand kann man räumlich, zeitlich oder auch nur mental erreichen:
Manchmal kann es helfen, in einer schwierigen Lebenssituation, die einen emotional sehr ergreift, einfach wegzufahren, an einen anderen Ort, an dem man mit etwas Distanz wieder innerlich zur Ruhe kommt. Durch die neue Umgebung kommen oft neue Impulse und Erkenntnisse, die Emotionen können sich beruhigen, und auch wenn das zurückgelassene Problem noch das gleiche ist, kann man dann souveräner damit umgehen. – Dass räumlicher Abstand sinnvoll und inspirierend wirkt, mag einer der Gründe sein, warum viele Firmen mit ihren Mitarbeitern regelmäßig Visions- oder Teamtage in einem Hotel an einem anderen als dem Firmenort, bestmöglich in schöner Umgebung veranstalten, weil dadurch die Distanz zur Alltagsumgebung wie ein Katalysator wirken kann. – Doch auch im Kleinen lässt sich dies einsetzen: Wenn ich beispielsweise im Büro am Schreibtisch sitzend per Telefon eine äußerst ärgerliche Nachricht erhalte, dann kann es schon helfen, wenn ich nur aufstehe, mich einige Meter von meinem Arbeitsplatz entferne und mir die ganze Szene noch einmal von außen anschaue, wie in einem Film. Durch diese Technik innerer Distanzierung werde ich etwas aus meinen negativen Emotionen herausgerissen, und ich kann anschließend mit klarerem Kopf reagieren. Natürlich mag ein kurzer |141| Spaziergang an der frischen Luft von noch stärkerer Wirkung sein. – Gestatten Sie sich also bisweilen einfach, »einen Schritt zurückzutreten«!
In zeitlicher Hinsicht gilt nicht nur das alte Sprichwort, dass die Zeit Wunden heilt, sondern auch die Weisheit, eine Sache erst einmal zu »überschlafen«, bevor man eine Entscheidung trifft. So manches sieht am nächsten Morgen »halb so wild« aus, viele Emotionen lösen sich im Schlaf auf, und spätestens nach ein paar Tagen ist der »Dampf raus«, manchmal wundert man sich sogar, warum man sich über diese Sache überhaupt so aufregen konnte – je nach Intensität des Ereignisses kann dies nach Tagen, Wochen, Monaten oder auch erst nach Jahren eintreten. (Mehr zu diesem Aspekt finden Sie im Kapitel »Relativität der Dinge«, S. 131.) Doch fast immer hat die zeitliche Distanz eine heilende Wirkung. Können Sie sich noch an Ihren ersten Liebeskummer erinnern? Schien damals nicht die Welt unterzugehen? Und heute lächeln Sie wahrscheinlich weise darüber.
Innerer Abstand lässt sich allerdings auch rein mental gewinnen – und zwar wiederum sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Sie können beispielsweise für ein paar Minuten die Augen schließen und das Erlebte (wie oben schon dargestellt) von außen, wie auf einem Bildschirm Revue passieren lassen. Wichtig ist, dass Sie sich dabei mit etwas Abstand betrachten können, ohne im Geschehen selbst als Akteur zu handeln. Man nennt das die Technik innerer Dissoziation, weil Sie sich gewissermaßen von Ihren Emotionen trennen. Es ist sehr schwer, als dissoziierter Beobachter (sei es auch nur mit gedachtem Abstand) gleichzeitig die Emotionen des Erlebnisses nachzuempfinden. So erlangen Sie innerlich eine heilsame neutrale Distanz und können mit dem Ereignis klarer umgehen. – Noch stärker
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