Auszeit
wohlhabender Kaufmann aus der nächsten Stadt. Er wollte für seine Tochter, die er bald verheiraten würde, einen Teppich bestellen. Rama Tschandra war bekannt für die auserlesenen Teppiche, die er knüpfte, aber auch bekannt dafür, dass man sehr lange warten musste, wenn man bei ihm etwas in Auftrag gab.
»Rama Tschandra, wach auf, du verschläfst ja dein halbes Leben«, rief der Kaufmann. »In zwei Stunden wird die Sonne untergehen und du hast heute Nachmittag noch keinen Knoten geknüpft.«
Rama Tschandra öffnete etwas widerwillig seine Augen und gähnte.
|151| »Hab heute früh schon geknüpft«, sagte er.
Es entwickelte sich ein Dialog:
»Aber Rama Tschandra, du kannst doch heute Nachmittag auch knüpfen und verdienst dann mehr Geld?«
»Was fang ich an mit dem Geld?«
»Nun, du kannst einen oder zwei Arbeiter oder Arbeiterinnen einstellen, die dir helfen, dann kannst du noch mehr Teppiche verkaufen.« »Und was soll ich dann, wenn ich mehr verkaufe?«
»Du könntest eine Werkstatt bauen, mehr Webstühle aufstellen, zehn, ja zwanzig Leute beschäftigen, könntest ein Haus bauen, viel Miete einnehmen, würdest reich …«
»Und was nützt mir der Reichtum?«
»Du könntest deiner Frau schöne Kleider kaufen, gut essen, Reisen machen, brauchst nicht mehr so viel zu arbeiten , könntest in Ruhe im Schatten liegen …«
»Aber das tu ich ja sowieso!«
Rama Tschandra sprach’s, gähnte noch einmal, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.
Zwei Einstellungen, die dem üblichen Leistungs- und Wachstumsdenken diametral entgegengesetzt sind: Statt dem üblichen »Je mehr, desto günstiger« (»Im Dutzend billiger«) und »Je mehr, desto glücklicher« verkünden sie ein klares »Weniger ist mehr«, allerdings nicht quantitativ mehr, sondern qualitativ, im Sinne von Lebensqualität und Arbeitsfreude.
Doch wie soll oder kann man diese Botschaften, wenn sie einen innerlich berühren, ja, wenn man einen Funken Sehnsucht danach verspürt, überhaupt in unseren Alltag transportieren? Wohl kaum eins zu eins. Diese Haltung ist ein Luxus (ja, wahrlich ein Luxus, so paradox es klingen mag), den sich in unserem westlichen Kultur- und Lebensbereich aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten praktisch niemand mehr leisten |152| kann. Anders sieht es vielleicht noch in den Ursprungsländern dieser Geschichten aus: in Mittelamerika oder Indien, Ländern also, in denen die Lebenshaltungskosten gering sind und ein niedriges Einkommen die Versorgung mit dem Notwendigen sichert. Freilich: Mehr als dieses Notwendige können die Menschen in diesen Ländern oft auch durch Mehrarbeit nicht erreichen, die Aufstiegs- und Bildungschancen sind gering, den Wohlstand teilen sich dort wenige Menschen. Dennoch: In unseren eigenen Alltag können wir diese Weisheit vielleicht in abgewandelter Form integrieren, denn es erscheint wichtiger denn je, sich dem Sog des »Mehr« zu entziehen. Voraussetzung dafür ist prinzipiell:
Zu wissen, was man wirklich will, was einem wirklich wichtig ist.
Nein sagen zu können.
Und es sich leisten zu können (indem man zum Beispiel geringere Ansprüche an Luxus und Wohlstand stellt). Hier stellt sich dann die maßgebliche Frage, was für ein gutes und menschenwürdiges Leben wirklich notwendig erscheint.
Was ist es mir wert, »im Schatten zu liegen«, und welchen Preis muss ich zahlen, wenn ich erst mit fünfzig oder sechzig Jahren Zeit dafür finde? (Mehr zu diesem Aspekt finden Sie im Kapitel »Selbstbetrug«, S. 65.) Wann auch immer Sie sich Zeit nehmen, über Ihr Leben und Ihre Arbeit nachzudenken, mag es sich lohnen, die Vertreter dieser Botschaften als Berater an Ihren »inneren Konferenztisch« mit einzuladen!
Fragen zum Nachdenken
Was macht die Freude an meiner Arbeit aus, und ab welchem Umfang hört sie auf, Freude zu machen?
|153| Was brauche ich wirklich zum Leben, und wie sehr reibe ich mich für letztlich nicht wirklich erfüllenden Luxus auf?
Habe ich genug Zeit, um »in Ruhe im Schatten zu liegen«? Was müsste ich im Rahmen des Möglichen verändern, um wieder mehr Zeit für Muße zu haben?
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|155| Return on investment
In wie viele Dinge im Leben haben Sie schon Zeit, Geld und Energie investiert und dann das Gefühl gehabt, es war umsonst, weil Sie nicht das gewünschte Ergebnis erzielt haben? Erst viel später konnten Sie dann vielleicht doch noch die Früchte ernten – und manchmal, ohne bewusst zu erkennen, dass diese den späten return für
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