Auszeit
sich einerseits den planerischen Strategen sehen, den Disziplinierten, den Kämpfer und Macher und andererseits den sinnlichen Genießer, den Kreativen, den Traurigen, den Fröhlichen, den Faulenzer, den Nörgler und viele weitere. In der Regel findet sich zu jedem Teil auch ein Gegen-Teil, das manchmal viel schwächer ausgeprägt ist, manchmal aber auch gleich stark sein kann. Wenn nun zwei solche sich vordergründig widersprechenden Pole ähnlich stark ausgeprägt sind, kann man wie einst Faust das Gefühl haben, zwei Seelen würden in der eigenen Brust wohnen. Wie lässt sich damit umgehen?
Sind beide Kräfte etwa gleich stark, ist die Lösung keineswegs, den einen zugunsten des anderen zu unterdrücken, sondern beide in einen Ausgleich zu bringen, das heißt einen Weg zu finden, wie beide Anteile zu ihrem Recht kommen und ihren notwendigen Raum haben können. Nur wenn ich beide Seiten wirklich akzeptiere und leben lasse, kann es zu einer heilsamen Integration kommen.
Ist dagegen ein Teil dominant und persönlichkeitsprägend, kann es hilfreich sein, Wege und Möglichkeiten zu suchen, auch die andere (kaum gelebte) gegenteilige Seite zu stärken. Denn in der Regel schlummert in jedem auch die Sehnsucht oder das Potenzial des gegenteiligen Aspekts, der bisher nur wenig Gelegenheit hatte, zum Zuge zu kommen. So mag auch ein Perfektionist und Pedant einen Teil in sich haben, der lieber unperfekt und flexibel leben würde. In jedem sicherheitsbedürftigen Menschen mag auch ein Abenteurer schlummern, und auch ein Chaot mag latent die Sehnsucht nach Ordnung haben. Ohne seine Grundveranlagung verurteilen zu müssen, |129| kann man spielerisch nach kleinen Nischen im Alltag suchen, in denen man sich erlaubt, mit der Gegentendenz zu experimentieren und diese leben zu lassen. Auf diese Weise wird man mit der Zeit eine immer »rundere«, vielfältigere Persönlichkeit.
Fragen zum Nachdenken
Bei welchen Menschen in meinem Umfeld neige auch ich zu pauschalisierenden und einseitigen Bewertungen?
Welche Persönlichkeitsmodelle haben mir schon geholfen, mich und andere besser zu verstehen?
Zwischen welchen »Seelen in meiner Brust« fühle ich mich immer wieder hin- und hergerissen, und wie könnte ich diese besser in einen heilsamen Ausgleich bringen?
Welche dominanten Grundtendenzen erkenne ich bei mir, und wie könnte ich auch den Gegenseiten dieser Tendenzen mehr Raum geben und sie stärken?
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|131| Relativität der Dinge
Etliche Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass Kleinigkeiten sie völlig aus der Fassung bringen können. Manchmal kann man von einem Problem so gänzlich in Beschlag genommen werden, dass man alles andere darüber nahezu vergisst, vielleicht sogar tage- oder wochenlang davon belastet wird, und oft erscheint es einem dann rückblickend, mit einem gewissen zeitlichen Abstand, sogar relativ harmlos, und man fragt sich, wie man dieser Sache eine solche Bedeutung einräumen konnte. Wer dagegen schon im Augenblick, da die Schwierigkeit auftaucht, die Fähigkeit hat, diese zu relativieren, kann in der Regel wesentlich souveräner damit umgehen. Dabei soll der Relativierungsprozess keineswegs dazu dienen, ein tatsächliches Problem verharmlosend außer Acht zu lassen und die Augen davor zu verschließen, sondern vielmehr eine Haltung innerer Gelassenheit einzunehmen, die einen befähigt, gelöster und mit klarerem Gemüt die betreffende Angelegenheit anzugehen. Diese Fähigkeit zur Relativierung ist manchen Menschen möglicherweise als natürliche Veranlagung mit ins Leben gegeben, andere können sie durch spontane Reflexion mit Fragen wie den folgenden bewusst aktivieren: Welche Bedeutung wird diese Angelegenheit in einem Monat, in einem Jahr oder in zehn Jahren noch für mich haben? Oder bezogen auf das gesamte Leben! Uralte Weisheiten der Welt gehen noch in eine viel umfassendere Dimension, indem sie die Frage nach der Bedeutung des ganzen, von uns selbst so |132| wichtig genommenen Lebens ins Verhältnis zur Geschichte der Welt stellen. So lautet beispielsweise eine alte Indianerweisheit:
Was ist des Menschen Leben?
Der Hauch eines Büffels im Winter,
das Aufleuchten eines Glühwurms in der Nacht,
der kleine Schatten, der im Abenddämmer über das Gras huscht.
Eine Weisheit, die sich ebenso in den Quellen unserer abendländischen Kultur findet. So formuliert König David im Alten Testament: »Denn tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag, der gestern vergangen ist. (…)
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