Auszeit
dem Ratsuchenden in der folgenden jüdisch-chassidischen Geschichte von Martin Buber:
Ein gelehrter und kargherziger Mann redete Rabbi Abraham von Stretyn an: »Es heißt, ihr gäbet den Leuten heimliche Heilmittel und eure Mittel seien wirksam. Gebt mir dann eins, um Furcht Gottes zu erlangen!«
»Für Furcht Gottes«, sagte da Rabbi Abraham, »weiß ich bei mir kein Mittel. Aber wenn ihr wollt, könnt ihr eins für Liebe Gottes erhalten.«
»Das ist mir noch erwünschter«, rief jener, »gebt es nur her!«
»Das Mittel«, antwortete der Zaddik, »ist Liebe zu den Menschen.«
|172| Statt Gottesfurcht hebt der jüdische Rabbi die Gottesliebe hervor, die sich durch Liebe zu den Menschen, also durch Nächstenliebe vermitteln würde. Nun ist der Chassidismus eine volkstümliche Bewegung im Judentum, die Lebensbejahung und Fröhlichkeit ins Zentrum der Religiosität stellt und möglicherweise dadurch für das Denken und Empfinden vieler Menschen in der heutigen Zeit ansprechend ist. Es bleibt aber dennoch die Frage, was es praktisch bedeutet, die Menschen (also den Nächsten) zu lieben.
Vielfach wird gelehrt, man solle Liebe »üben« durch aktives Tun für andere. Solange dies allerdings nur aus innerer Verpflichtung geschieht, bleibt fraglich, ob es wirklich dazu führt, die Menschen zu lieben. Wenn wir soziales Engagement lediglich als Pflichtübung begreifen, ohne dabei echte Liebe im Herzen zu spüren, ist dies für andere zwar auch sehr hilfreich, für uns selbst aber ist der Gewinn nicht so ergiebig. So kann man immer wieder äußerst karitative Menschen erleben, die mit einer für alle erkennbaren Leidensmiene ihren aufopfernden Dienst am Nächsten absolvieren. Häufig fehlt ihnen die eigene Lebensfreude, und meistens gönnen sie sich selbst kaum etwas. Ganz anders ist der Weg, den etliche weise Menschen aufzeigen: den Weg zur Nächstenliebe mithilfe eines gesunden Maßes an Liebe zu sich selbst. Diese muß sogar an erster Stelle stehen: Nur wer in der Lage ist, sich selbst wirklich zu lieben, kann auch die Menschen lieben. Auch das Wort Jesu, man solle seinen Nächsten lieben, wie sich selbst , geht ja zunächst davon aus, dass ein Mensch es vermag, sich selbst zu lieben, was allerdings vielen gar nicht leicht fällt.
Eine zeitgerechte Anleitung hierzu kann man in dem kleinen Büchlein Eine Minute für mich des amerikanischen Autors Spencer Johnson finden. Er zeigt einen einfachen, pragmatischen Weg in drei Phasen:
|173| Phase eins: Lerne für dich selbst zu sorgen, dass es dir gut geht. Dabei empfiehlt Johnson, jeden Tag immer wieder für eine Minute innezuhalten und sich die Frage zu stellen: »Wie kann ich jetzt dafür sorgen, dass es mir gut geht?« – Mit dieser wiederholten Frage hat die Hauptfigur der Geschichte Spencer Johnsons in relativ kurzer Zeit sein Leben verändert und ist zu einem auch nach außen hin erkennbar viel zufriedeneren und erfüllteren Menschen geworden. Auf die erstaunte Frage seines Neffen, dem er sein Geheimnis anvertraut hat, ob dies nicht recht egoistisch sei, antwortet er: Nein, nur wenn er dafür sorge, dass es ihm gutgehe, könne er auch anderen helfen, dass es ihnen besser gehe. Das sei aber erst der nächste Schritt:
Phase zwei: Die Menschen fördern, die einem nahestehen. Jeden Tag, so erfährt der fragende Neffe, stelle der Onkel seiner Frau am Morgen die Frage: »Wie kann ich dich heute unterstützen, damit du es dir gutgehen lässt und etwas für dich tust?« Wohlgemerkt unterstützen, nicht es ihr abnehmen, etwas für sich zu tun. Sonst verliere der Nächste schnell seine Eigenständigkeit und werde abhängig (ein Nachteil übrigens vieler Entwicklungshilfemaßnahmen). – Mit der Zeit ging es beiden viel besser, jedem für sich und auch miteinander, sodass sie reif waren für …
Phase drei: Gemeinsam eine Aufgabe für das Wohl des »Großen und Ganzen« auf dieser Erde zu übernehmen. Nachdem sie gelernt hatten, sich selbst zu lieben, konnten sie aus ihrer Fülle heraus (ohne Pflichtgefühl) dem Wunsch nachgehen, etwas für andere zu bewirken und diese dabei unterstützen, besser für sich selbst zu sorgen. – Nur diejenigen, die dazu nicht mehr in der Lage sind, bedürfen wirklicher Hilfe, die aber aus liebendem Mitgefühl und nicht aus Mitleid (das den anderen meist erniedrigt) erbracht werden sollte.
|174| Je mehr jemand so lebt, desto größer wird erfahrungsgemäß in ihm auch die Liebe zum Leben, zum Universum und – für einen gläubigen Menschen –
Weitere Kostenlose Bücher