Auszeit
Tragweite vielleicht, doch können wir nicht alle dieser trickreichen Selbstbetrugstendenz unseres Gehirns erliegen? Wie häufig passiert es, dass man automatisch alles ablehnt, was ein Mensch äußert, den man nicht leiden kann? Die Medien schildern einen Skandal, und ohne die Behauptungen überprüfen zu können, ist die betreffende Person für Millionen von Menschen erledigt. Selbst wenn sich hinterher die Unwahrheit des Ganzen herausstellt, ist eine wirkliche Rehabilitierung kaum mehr zu erreichen.
Was tun? Kaum einer ist gegen diese Tendenz unseres Gehirns gefeit, wohlgemerkt gegen die Tendenz , denn diese muss keineswegs zu Übertreibungen wie in den obigen Geschichten führen. Jeder kann aber lernen, etwas vorsichtiger mit den eigenen Überzeugungen umzugehen, nämlich:
|178| Sich erstens seiner Überzeugungen bewusst zu sein, was vor allem bedeutet, selbstkritisch zwischen realen Fakten (die man selbst nachprüfen kann) und den eigenen Überzeugungen von nicht überprüften Dingen zu unterscheiden. Eine gute Frage hierzu ist immer: Woher weiß ich das wirklich?
Und zweitens bereit zu sein, eine bisherige Überzeugung wieder aufzugeben beziehungsweise zu revidieren, so unbequem oder auch schmerzhaft das möglicherweise im Einzelfall sein kann.
Beide Fähigkeiten zeichnen reife und bewusst lebende Menschen aus. – Mag auch dies eine Überzeugung sein, dann können Sie sich gerne selbst davon überzeugen!
Fragen zum Nachdenken
Wann bin ich schon einer starren Haltung begegnet, die gegen alle Tatsachen immun zu sein schien, und welche Konsequenzen hatte das für mich?
In welchen Bereichen fällt es mir selbst schwer, eigene Überzeugungen zu revidieren?
Welche Überzeugungen über das Leben oder über bestimmte Menschen habe ich übernommen, ohne sie zu überprüfen? (Keine Sorge, alle Menschen haben eine Fülle solcher Überzeugungen – es geht nur darum, sich dies bewusst zu machen!)
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|179| Richten
Das Wort »Richten« hat es in sich, kann es doch sowohl das Urteil fällende Richten bedeuten als auch das reparierende Wiederher-richten. Und auch das Wort Gericht bezeichnet sowohl den Ort, an dem gerichtet wird, als auch das Gericht, das uns im Lokal serviert wird, nachdem es angerichtet wurde. Diese Mehrdeutigkeit kann einem auch zu denken geben, wenn es um das Gericht geht, welches über Jahrtausende für die Menschen das gefürchtetste war, nämlich das »Jüngste Gericht«. Die Portale romanischer und gotischer Kathedralen verkünden »Himmel und Hölle«, Letztere als abschreckende Warnung für diejenigen, die bei diesem Gericht aufgrund ihres Lebenswandels verurteilt werden sollten. So heißt es doch im Glaubensbekenntnis der christlichen Kirchen von Jesus, er werde einst kommen »zu richten die Lebenden und die Toten«. Gerade diese Worte können aber durch folgende Geschichte eine ganz andere Bedeutung bekommen, als sie üblicherweise damit verbunden wird.
Ein alter Mönch, der sowohl für seine Weisheit als auch seine große Herzensgüte bekannt war, wurde einst von seinen Schülern nach dem Tag des Jüngsten Gerichtes befragt . Er sah mit Verwunderung die Angst in ihren Augen und forschte nach dem Grund. Ob er denn nicht wisse, gaben sie ihm zur Antwort, was alles Schreckliches mit denen passiere, die an jenem Tage vor dem streng urteilenden |180| Gott nicht bestehen und zur Hölle verurteilt würden ? – Darauf lächelte der Mönch weise und erwiderte: »Ja, leider weiß ich wohl, dass viele das Jüngste Gericht in diesem Sinne missverstehen. Dabei ist es der Tag, an dem Jesus kommen wird, um alle Menschen – besonders aber die sogenannten Sünder – wieder auf-zu-richten und gerade zu richten all jenes, was durch falschen Lebenswandel krumm geworden und auf die schiefe Bahn geraten ist. Ein Gott der Liebe braucht keine Verurteilung, noch weniger bedarf er zum Richten einer Hölle. Gerade am Jüngsten Tag wird der Erlöser seinem Namen gerecht werden und uns erlösen. Außerdem bedarf es gar keiner Verurteilung mehr, denn wer gesündigt hat, der hat sich allein schon durch diese Taten selbst bestraft und von Gott abgesondert (das nämlich bedeutet das Wort Sünde). Gott wird das also richten, indem er diese Trennung wieder aufhebt und heilt.« Damit entließ der Alte die Schüler und stellte in der Folgezeit mit Erleichterung fest, dass sie anscheinend ihre Angst vor den Jüngsten Gericht verloren hatten. Und allein das war schon viel wert. – Im stillen Gebet
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