Auszeit
sein dar. Moral, wie sie sich im christlichen Abendland über die Jahrhunderte entwickelt hat, wurde immer mehr zu einem von außen an den Menschen herangetragenen Normensystem mit Geboten und vor allem Verboten, das einem vorschrieb, was man müsse, solle und nicht dürfe. Durch buchstabengetreue Auslegung wurde meist das als gut angesehen, was den Moralvorschriften entsprach, |168| egal, ob es dem Menschen half oder nicht. In letzter Konsequenz sollte also der Mensch der Moral dienen, und nicht mehr die Moral dem Menschen. Anders dagegen die Tugend (wie Brantschen sie neu interpretiert). Im Sinne von Platon und Aristoteles sollen Tugenden dem Menschen in seinem Streben nach einem guten und erfüllten Leben helfen, einem Leben, das nicht mit Mühsal und Zwang verbunden ist, sondern froh zu machen vermag. Tugend erwachse aus der Sehnsucht, dieses Leben voll zu leben, und solle uns helfen, zunehmend das zu tun, was unserem Wesen zutiefst entspricht. Nicht einem von außen auferlegten Normenkodex gelte es zu folgen, sondern dem Gesetz, das einem ins Herz geschrieben ist. Dies sei das Sittliche, das ohne Moral auskomme. Noch besser verständlich macht Brantschen dies mit folgender Gegenüberstellung:
Moral engt ein.
Tugend befreit.
Moral treibt an.
Tugend lockt.
Moral sagt: »Du musst!«
Tugend sagt: »Du darfst!«
Moral hebt den Zeigefinger.
Tugend zeigt aufs Herz.
Moral schaut auf Prinzipien.
Tugend schaut auf den Menschen.
Moral kämpft gegen Fehler.
Tugend ist für das Fehlende da.
Moral lehrt das Fürchten.
Tugend macht Mut.
Moral droht mit der Hölle.
Tugend zeigt den besseren Weg.
Moral predigt Wasser und trinkt Wein.
Tugend predigt Wein und – trinkt Wein.
Und warum brauchen Werte die Tugend und keine Moral? Weil Werte aus sich heraus sinnvoll und gut sein können. Wie viele Dinge werden getan aus Pflichtgefühl, Rücksichtnahme oder aus der Angst heraus, bestimmten Autoritäten (im Außen oder |169| Innen) nicht zu genügen. Wie oft habe ich in meinem Leben Sätze gehört wie: »Du solltest eigentlich …« – »Du kannst doch nicht einfach …« – »Wenn du verantwortungsvoll handeln würdest …« – »Auf jeden Fall musst du …« – und so weiter und so fort. Oft war der Inhalt der Aussage an sich völlig richtig. Die Frage ist nur, aus welcher inneren Haltung ich etwas tue: weil ich es »sollte« oder »muss«, also aus Verpflichtung oder Zwang. Oder weil ich es »will«, also aus der Entscheidungsfreiheit und der eigenen Erkenntnis der Sinnhaftigkeit meiner Handlung heraus.
Ja, Werte bedürfen letztlich keiner Moral. Sie können aus sich heraus sinnvoll sein. Wer in diesem Sinn tugendhaft seine Werte lebt und entsprechend handelt, belohnt sich selbst (ohne dafür belohnt werden zu müssen) oder straft sich selbst, wenn er sie missachtet (ohne dafür später bestraft werden zu müssen). Wer gerecht, ehrlich und verlässlich lebt und sich für andere engagiert, tut sich selbst etwas Gutes und erhält gewissermaßen dadurch seinen instant return on investment (Mehr zu diesem Aspekt finden Sie im Kapitel »Teilen «, S. 21). Tugend und Werte genügen sich selbst beziehungsweise sie genügen einem selbst – und somit muss man sie auch nicht anderen (mit moralisch erhobenem Zeigefinger) vorhalten. Sie verbessern von sich aus die Welt (indem sie gelebt werden), ohne dass sie eines missionarischen Eifers von Weltverbesserern bedürfen.
Finden Sie Ihre Tugenden und Werte und leben Sie diese, dann brauchen Sie keine Moral!
Fragen zum Nachdenken
Was bedeuten mir die Begriffe Moral und Tugend?
Welche Tugenden und Werte sprechen mir aus dem Herzen, sodass ich ihnen entsprechend leben will?
|170| Wann habe ich schon erfahren, dass sich das Handeln nach eigenen innersten Wertvorstellungen lohnt?
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|171| Gottesfurcht und Nächstenliebe
Ich kann mich noch gut erinnern, dass in der religiösen Erziehung meiner Kindheit Gottesfurcht eine große Rolle gespielt hat, und auch in vielen Kirchenliedern ist immer wieder davon die Rede. Warum, so fragten wir uns damals und fragen auch heute viele, soll man einen liebenden Gott (wie er gleichzeitig gelehrt wird) denn fürchten? Besonders in der heutigen Zeit ist das alttestamentarische Bild eines furchterregenden Gottes fremd und alles andere als einladend. Vielfach wird einem daher von moderner denkenden Geistlichen beruhigend nahegelegt, man brauche Gott nicht fürchten, sondern solle ihn lieben. Aber wie? Genau um diese Frage geht es auch
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