Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
erster Hauch von Herbst in der lauen Luft lag, ritten sie los in Richtung Süden. Mehrere Diener begleiteten sie, was sie diesmal widerspruchslos hinnahm. In ihrer gegenwärtigen Verfassung erschienen ihr andere Menschen ohnehin nur wie Geister und Schatten, und sie wäre auch gar nicht fähig gewesen, die nötige Energie aufzubringen, um sie abzuschütteln.
Nach einem halben Tagesritt erreichten sie die Quelle. Der Ort war voll von Pilgern, von denen man einige kurzerhand aus ihren Hütten vertrieb, als die Königin der nördlichen Icener samt Gefolge eintraf. Boudicca machte sich wenig daraus, wo sie nächtigen würde, solange es nicht in der Hütte war, die sie und Prasutagos einst geteilt hatten. Während die anderen das Nachtlager bereiteten, schlenderte sie durch den Hain. Sie aß, was man für sie kochte, aber an die Quelle ging sie erst am folgenden Morgen.
Am Morgen blüht noch die Hoffnung, dachte sie, als sie dem gewundenen Pfad folgte und über die Trittsteine das sumpfige Land unterhalb der Quelle durchquerte. Doch das Sonnenlicht erschien ihr fahl und das Gurgeln des Wassers wie Spott. An den Zweigen der Haselbäume flatterten die üblichen Stoffbänder, einige alte und einige neue. Dazwischen erspähte sie das Zierband, das sie vor knapp einem Jahr dort festgebunden hatte, langte hoch und löste es.
Und wie damals schnupperte sie die kühle Brise des Wassers, das unverändert aus unbekannten Tiefen hervorsprudelte, süß und klar.
»Viel lieber wäre ich gekommen, um dir zu danken für eine gesunde Geburt«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Wenn es überhaupt etwas zu danken gibt …« Ihre Stimme zitterte. »Wenn es dich überhaupt kümmert, ob ich dir ein Stoffband schenke oder es wieder mitnehme, ob ich dir danke oder in dein heiliges Becken spucke!«
Doch das brachte sie selbst in ihrem Zorn nicht fertig. Es war vielleicht bloß Wasser, aber immerhin war es ein Element, das es zu achten galt, selbst jetzt, wo es große Mengen davon geregnet hatte. Die Druiden hätten es als mystisches Wasser gesehen, das ihnen predigt. Aber im Augenblick schien ihr auch alle druidische Weisheit nutzlos. Alles, was sie mit ihrer Magie bewirkt hatten, war, die Römer noch schneller an Britanniens Küsten zu bringen. Im Grunde wusste sie gar nicht mehr, an was sie überhaupt noch glaubte. Als ob mit der Hoffnung auch alle Kraft zur Bewegung geschwunden war, sank sie auf einen Holzblock, den man als Bank dort aufgestellt hatte.
»Ich würde dich hassen, wenn ich die Kraft dazu hätte«, sprach sie in das Becken hinein. »Man sagt, deine Wasser fließen so reichlich wie Milch aus der Mutterbrust. Meine Brüste sind trocken. Man sagt, dein Becken sei der Schoß des Lebens. Mein Schoß ist leer!« Und man sagte auch, dass die Tränen der Göttin die Quelle füllten. Und als sie sich über das dunkle Wasser beugte, weinte sie bittere Tränen hinein.
Bei ihrem ersten Besuch war Boudicca überzeugt gewesen, die Göttin der Quelle habe zu ihr gesprochen. Jetzt aber hätte sie sich gegen eine solche Einbildung heftig gewehrt. Gegen eines aber konnte sie sich nicht wehren … Hier am Wasser fand sie einen Ort, an dem sie zur inneren Ruhe gelangte. Einen Ort, an dem sie nicht nur Trost, Vergebung und Seelenfrieden fand, sondern weit mehr. Die Sonne wanderte stetig westwärts; das Wasser sprudelte stetig hervor und rann den Hügel hinab; und auch Schilf, Gras und Bäume wuchsen stetig immer höher. Sie lebte.
Eine Weile saß sie da, ohne zu denken, doch da hörte sie plötzlich ein Geräusch am Ohr, das nicht in diese stille, natürliche Harmonie passte – ein immer wieder unterbrochenes, leises Winseln drang aus dem Schilfdickicht. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Kindes spürte sie eine brennende Neugier und stand auf, um nachzusehen. Ein schmutziges Knäuel Stoff schwappte halb unter, halb über dem Wasser. Sie zog den Stoff etwas auseinander und erblickte zunächst etwas, das aussah wie eine ertrunkene Ratte – wenn es je eine Ratte gegeben hatte, die weiß war, ein rotes Ohr hatte und absurd große Pfoten.
Ein Welpe – jemand hat versucht, in der Heiligen Quelle einen Welpen zu ertränken. Das war Götterlästerung in der Tat! Ihr Magen zog sich zusammen, als das winzige Etwas in ihren Händen zappelte. Am liebsten hätte sie sich übergeben und denjenigen getötet, der das getan hatte. Sie schälte dem Tierchen den durchnässten Leinenstoff vom Leib und rieb das klatschnasse Fell mit ihrem Schal trocken. Sie
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