Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
Gedanken führten Morgaine schließlich zu der Erkenntnis, daß ihr Erlebnis mit Lancelot im Grunde wenig Bedeutung besaß. Die größte Sünde lag nicht in ihrer Liebe zu Lancelot, sondern in ihrem Herzen: Sie hatte sich von der Göttin abgewendet. Es zählte nicht, was die Priester für gut, tugendsam, sündig oder schamlos hielten. Ihr verletzter Stolz war nur der Weg zur heilsamen Reinigung.
Die Göttin wird auf ihre Weise Lancelot zur Rechenschaft ziehen, wenn die Zeit gekommen ist. Ich habe nicht darüber zu richten.
Im Augenblick glaubte Morgaine, es sei das beste, wenn sie ihren Vetter nie mehr sah. Nein, sie konnte nicht erwarten, auf ihren Platz als erwählte Herrin von Avalon zurückzukehren… Vielleicht hatte Viviane Mitleid mit ihr, und sie durfte ihre Sünden gegen die Göttin sühnen. Sie glaubte, schon damit zufrieden zu sein, in Avalon leben zu dürfen… und sei es auch nur als Dienerin oder einfache Feldmagd. Sie fühlte sich wie ein krankes Kind, das kaum erwarten kann, den Kopf in den Schoß der Mutter zu legen, um sich auszuweinen… Sie würde nach ihrem Sohn schicken, damit er in Avalon unter den Priestern aufwuchs, und nie mehr von dem Weg abweichen, den man ihr gewiesen hatte…
Und als der Berg mächtig, grün und unverkennbar hinter den Hügeln auftauchte, rannen Morgaine die Tränen über das Gesicht. Sie kam nach Hause, nach Hause und zu Viviane. Sie würde wieder im Kreis der Ringsteine stehen und zur Göttin beten, damit ihre Fehler vergeben wurden. Vielleicht durfte sie dann wieder an den Platz zurückkehren, den sie aus Stolz und Eigensinn verschmäht hatte.
Der Berg schien Versteck mit ihr zu spielen – einmal ragte er sichtbar wie ein männliches Geschlecht zwischen den Hügeln empor, dann verbarg er sich hinter niedrigeren Hügeln und verschwand in den Nebeln. Aber schließlich gelangte sie an das Seeufer, wo sie vor so vielen Jahren mit Viviane gestanden hatte.
Das graue Wasser lag im Licht der späten Abendsonne leer und verlassen vor ihr. Die Binsen wirkten vor dem roten Himmel dunkel und kahl. Im Abenddunst lag gerade noch sichtbar die Insel der Mönche. Nichts regte sich, nichts bewegte sich auf dem Wasser, wie sehr sie auch mit der ganzen Kraft ihres Herzens und ihres Geistes versuchte, die Insel zu erreichen und die Barke zu rufen. Morgaine stand lange reglos am Ufer; dann senkte sich die Dunkelheit herab; und sie wußte, sie hatte versagt.
Nein… die Barke würde sie nicht holen, nicht in dieser Nacht, nie mehr… Sie würde nur eine Priesterin holen… Vivianes erwählte und geliebte Tochter, aber zu einer Abtrünnigen würde sie nicht kommen, zu einer Verräterin, die an weltlichen Höfen gelebt und sich vier Jahre lang nur von ihrem eigenen Willen hatte leiten lassen. Schon einmal, vor ihrer Weihe zur Priesterin, hatte man sie aus Avalon vertrieben, und die Prüfung bestand nur darin, ohne Hilfe zurückzukehren.
Morgaine konnte die Barke nicht rufen. Ihre Seele fürchtete sich, das Wort der Macht laut zu rufen. Sie konnte dem Boot nicht befehlen, die Nebel zu durchdringen, denn sie hatte das Recht verwirkt, ein Kind Avalons genannt zu werden. Die Farbe wich aus dem Wasser, und die letzten Strahlen des Abendlichts erstarben im dunstigen Zwielicht. Traurig sah Morgaine hinüber zum fernen Ufer. Sie wagte nicht, das Boot zu rufen… Aber es gab noch einen Weg, um Avalon zu erreichen. Er führte um den See herum auf die andere Seite, und von dort konnte man auf einem verborgenen Pfad den Sumpf durchqueren und in die verborgene Welt gelangen. Morgaine empfand schmerzlich die Einsamkeit und wanderte langsam am Seeufer entlang.
Sie führte das Pferd am Zügel; die Anwesenheit des großen Tiers, das schnaubend hinter ihr hertrottete, bedeutete nur einen kleinen Trost. Wenn alles mißlang, konnte sie die Nacht am Ufer verbringen – es wäre nicht die erste Nacht, in der sie allein unter freiem Himmel schlief. Am Morgen würde sie den Weg schon finden.
Sie erinnerte sich an die einsame Reise, vor einigen Jahren, als sie verkleidet weit in den Norden zu Morgause gewandert war. Das bequeme und üppige Leben am Hof hatte sie verweichlicht, aber wenn es sein mußte, konnte sie es wieder tun.
Aber es war so still. Sie hörte weder die Glocken der Kapelle noch die Gesänge aus dem Kloster; kein Vogel rief. Sie glaubte, durch ein verzaubertes Land zu wandern. Morgaine fand die Stelle, die sie suchte. Es wurde dunkel; jeder Busch und jeder Baum nahm unheimliche Formen an.
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