Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
keine Angst, schöne Frau, es ist nicht die richtige Zeit… es ist die Zeit der Freude, nicht der Frucht«, sagte er leise. Jetzt gab sie sich ihm hin. Ja… das Geweih überschattete seine Stirn. Und wieder lag sie bei dem Gehörnten, und im Wald schien ein Schauer von Sternen herabzuregnen… oder waren es nur Glühwürmchen und Feuerfliegen?
Einmal streifte sie mit den Hofdamen durch den Wald, und sie kamen an einen Teich. Morgaine beugte sich über das Wasser und blickte hinein. Aus der Tiefe sah ihr Viviane entgegen. Ihre Haare wurden grau, weiße Strähnen mischten sich unter das Schwarz. Und sie sah Falten in ihrem Gesicht, die sie nicht kannte. Viviane öffnete die Lippen. Sie schien zu rufen, und Morgaine fragte sich:
Wie lange bin ich schon hier? Bestimmt schon vier oder fünf Tage, vielleicht sogar schon eine Woche. Ich muß nun aber wirklich gehen. Die Herrin versprach, jemand würde mich nach Avalon geleiten…
Sie sagte der Herrin, sie müsse sich jetzt auf den Weg machen. Doch die Nacht brach herein… sicher war es morgen auch noch früh genug… Und dann schien sie im Wasser Artus zu sehen, der ein Heer um sich sammelte… Gwenhwyfar wirkte erschöpft und irgendwie älter. Sie hielt Lancelots Hand. Er verabschiedete sich von ihr und küßte sie auf den Mund.
Ja, dachte Morgaine voll Bitterkeit, er liebt solche Spiele. Auch Gwenhwyfar wünscht es nicht anders, damit ihr all seine Liebe und Zuneigung gehört, aber ihre Ehre nie in Gefahr gerät…
Aber es fiel Morgaine nicht schwer, auch sie aus ihren Gedanken zu verbannen.
Eines Nachts fuhr sie erschrocken aus dem Schlaf. Von irgendwoher drang ein gewaltiger Schrei. Morgaine glaubte, auf dem Berg inmitten der Ringsteine zu stehen und den grauenerregenden Schrei zu hören,
der durch die Welten hallte… diese Stimme hatte sie erst einmal vernommen… die rauhe, rostige Stimme, stumpf vom langen Schweigen… Ravens Stimme, die das Schweigen nur brach, wenn die Götter eine Botschaft sandten, die sie niemandem sonst anzuvertrauen wagten…
Ah… der Pendragon hat Avalon verraten… der Drache hat sich in die Lüfte erhoben und ist davongeflogen… das Banner des Drachen weht nicht mehr über dem Kampf gegen die Sachsen… weint, weint, wenn die Herrin Avalon verläßt, wird sie nicht mehr zurückkehren …
In der plötzlich einsetzenden Dunkelheit hörte sie Weinen und Schluchzen… Schweigen. Morgaine saß aufrecht im grauen Licht. Zum ersten Mal, seit sie in dieses Land gekommen war, konnte sie wieder klar denken.
Ich bin hier schon zu lange. Es ist bereits Winter. Nun muß ich abreisen… jetzt, ehe der Tag vorüber ist… nein, ich weiß es noch nicht einmal. Die Sonne geht hier nicht auf und nicht unter… ich muß jetzt gehen… sofort!
Sie dachte daran, sich das Pferd bringen zu lassen. Dann erinnerte sie sich und wußte, das Pferd lag seit langem tot und verwest im Wald. In plötzlicher Angst fragte sie sich:
Wie lange bin ich schon hier?
Morgaine suchte nach ihrem Dolch. Dann fiel ihr ein, daß sie ihn weggeworfen hatte. Sie schnürte sich das Kleid – es wirkte verblichen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es gewaschen zu haben, auch nicht das Unterkleid, aber beides war nicht schmutzig. War sie wahnsinnig geworden?
Wenn ich mit der Herrin spreche, wird sie mich wieder bitten, nicht zu gehen…
Morgaine flocht ihre Haare und steckte sie auf… warum hatte sie, eine erwachsene Frau, ihr Haar offen getragen? Und sie lief zu dem Pfad, von dem sie wußte, daß er sie nach Avalon bringen würde.
Morgaine erzählt…
Bis heute weiß ich nicht, wieviele Nächte und Tage ich im Land der Feen verbrachte – selbst jetzt verwischt sich meine Erinnerung, wenn ich versuche, es nachzurechnen. Ich kann tun, was ich will, es werden nicht
weniger als fünf und nicht mehr als dreizehn. Ich bin auch nicht sicher, wieviel Zeit in der Welt draußen verstrich oder in Avalon, während ich mich dort aufhielt. Aber da die Menschen die Zeit genauer aufzeichnen als die Feen, weiß ich, daß fünf Jahre vergingen.
Vielleicht ereignet sich das, was wir für Zeit halten, nur, weil es uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, Dinge zu zählen… je älter ich werde, desto mehr glaube ich daran. Wir zählen die Finger eines Neugeborenen, das Aufgehen und das Untergehen der Sonne. Wir denken oft daran, wieviele Tage oder Monde vergehen müssen, ehe das Getreide reif ist oder unser Kind im Leib heranwächst und geboren wird oder ein langerwartetes Treffen
Weitere Kostenlose Bücher