AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
so wollte.
Sie waren seine Gefangenen, aber sie hielten auch ihn gefangen. Ihre Seelen umgaben ihn so vielfältig und unterschiedlich wie ihre äußeren Erscheinungen. Fremdartige Gefühle drangen auf ihn ein:
Die Sorgen der Familienväter, der gesetzestreuen Bürger, die täglich um ihr Auskommen rangen, ihr Neid auf die Bessergestellten, ihre Verachtung für die, die sich vor der Bürde drückten, und ihre Furcht vor denen, die ihr Leben und Gut bedrohten. Die Ängste würdiger Matronen um das Wohl ihrer Kinder, ihre Missgunst auf die Nachbarin, ihr kleiner Stolz auf die wohlgeführte Wirtschaft, auf das Festkleid und den Putz, den sie dem mageren Einkommen abzwackten. Die hochmütige Verachtung der Edlen und Reichen für jene, die unter ihnen standen, und ihre ständige Furcht vor ihnen, die nimmermüde Eifersucht, mit der sie sich untereinander belauerten, bereit, sich auf jedes Zeichen von Schwäche, auf jeden Riss in der prächtigen Fassade zu stürzen und sich daran zu ergötzen.
All die kleinen Wünsche und Sehnsüchte, bei den einen offen und harmlos wie sonnenbeschienene Wiesen, bei anderen verborgen und düster wie tiefe, lichtlose Abgründe. Ihre Abneigungen und Zuneigungen, vom dumpfen Unbehagen bis zum glühenden Hass und vom freundlichen Wohlwollen bis zur heftigen, schmerzlich empfundenen Liebe, in allen Stadien ihrer Entfaltung, vom ersten atemberaubenden Herzklopfen bis zum schalen Überdruss.
Und wie ein tiefer, kaum hörbarer Grundton eine vielstimmige Melodie durchzieht, so war dieses gewaltige Seelentableau durchwoben von der allgegenwärtigen Angst vor dem Tod.
All das sog und zerrte an Jermyns Geist, auch wenn er es an unsichtbaren Fäden hielt und lenkte wie ein Puppenspieler seine Geschöpfe.
Zuerst spürte er sich noch selbst, den Marmorboden unter seinen Füßen, kalt und trügerisch fest, die Glut der Mittagssonne in seinem Nacken, vor allem aber Ninian in seinen Armen. Wie ein Schiffbrüchiger klammerte er sich an sie und als sein Geist sich schon so weit ausgebreitet hatte, dass er jedes Gefühl seines Leibes verloren hatte, war ihm noch der Duft ihres Haares, der Salzgeschmack ihrer Haut auf seinen Lippen und das angestrengte Heben und Senken ihrer Brust geblieben. Aber auch das wurde schwächer, verblasste zur bloßen Erinnerung und verschwand endlich ganz.
Verloren in den Tausenden und Abertausenden hatte er sogar seinen eigenen Namen vergessen. Einzig der Gedanke an Ninian und dass er zu ihr zurückkehren wollte, banden ihn an sein eigenes Leben und auch dieses Band zog sich auseinander, bis es nur mehr einem Spinnwebfaden glich. Die Menge hatte Jermyn aufgesogen.
Ninian spürte, wie er ihr entglitt. Sein Griff lockerte sich und wenn er sie auch einige Male wieder fester umschloss, so wurde er doch schließlich schlaff und rutschte an ihr herunter, als seine Beine den Dienst versagten. Verzweifelt versuchte sie, ihn zu halten, indem sie lautlos seinen Namen rief und mit aller Inbrunst an ihn dachte, aber das eifersüchtige Gestein, das sie um seinetwegen vernachlässigt hatte, forderte ihr ganzes Wesen und entzog sich sofort ihrem Willen, wenn sie sich ihm nicht ganz und gar hingab. So musste sie ihn gehen lassen, aber ihr war dabei zumute wie einem Kletterer, der zusehen muss, wie ein Gefährte der rettenden Hand entgleitet und in den Abgrund stürzt. Ein wilder Hass auf das verräterische Bauwerk ergriff sie, sie zwang das auseinanderstrebende Mauerwerk, die wankenden Fundamente unbarmherzig zusammen, und ihre Finger krallten sich in den Stein, bis die Nägel aufgerissen waren und bluteten.
Die Sonne hatte den Mittagspunkt überschritten, als die letzten Zuschauer in den Aufgängen verschwunden waren. Allmählich leerten sich auch die oberen Gänge und die Menge schob sich, angeleitet von den Stadtwächtern, hinaus auf den freien Platz rund um den Zirkus. Die Menschen bewegten sich langsamer und unsicherer, je weiter sie sich von dem Bauwerk entfernten. Jermyns Zugriff auf ihre Gedanken ließ nach, und die Wächter hatten alle Mühe, sie weiter von den gefährlichen Mauern fortzutreiben. Am Rande der weiten Fläche kam die Bewegung endgültig zum Stillstand. Zusammengedrängt wie führerlose Schafe, verharrte die Menge ratlos am Eingang der Straßen. Die meisten starrten stumpfsinnig zum Zirkus und versuchten mit den widerstreitenden Eindrücken in ihren Köpfen zurechtzukommen. Ein dumpfes Summen lag in der Luft, das Duquesne nicht gefiel. Allzu schnell konnte es
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