AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
schob. Die Finger verkrampfen sich in dem flachen Griff, Nacken und Schultern schmerzten vor Anstrengung. Ein wenig höher fand sie besseren Stand und schmiegte sich einen Augenblick an den kühlen Stein, um auszuruhen. Ein Zucken des Seils ließ sie aufblicken.
Zwei Seillängen über ihr querte Jermyn die Wand nach rechts, um Resten der spiegelglatten Marmorverkleidung auszuweichen. Geschickt schob er sich an den Platten vorbei und schlug einen Haken ein. Seit die Sommerhitze über Dea brütete, kletterte er ohne Kittel, aber mit den schwarzen Augen mussten ihm seine Vorfahren auch die Erinnerung an einen heißeren Himmel vererbt haben – die Sonne hatte ihn nicht verbrannt wie die meisten Blasshäutigen. Sein nackter Rücken hob sich golden von dem hellen Sandstein ab und bei jeder Bewegung spielten die Muskeln unter der glatten Haut.
Ninian vergaß ihre unbequeme Lage, während sie zu ihm hinaufstarrte. Als sie ihre Fingerspitzen nicht mehr spürte, kam sie zu sich. Mit trockenem Mund wandte sie sich ab. Es war nicht gut, solche Gedanken beim Klettern zu haben. Eine seltsame Mattigkeit machte ihre Glieder schwer; sie schloss die Augen und lehnte die heiße Stirn an die Mauer.
»Oi, Ninian, schläfst du da unten, oder was?«
Sie zuckte zusammen. Jermyn kauerte auf einem breiten Sims drei, vier Längen weiter, seine Stimme klang scharf. Hastig, mit brennenden Wangen, setzte sie ihren Weg fort. Die Querung unterhalb der Marmorplatten gelang noch halbwegs, aber danach dauerte es eine Weile, bis sie endlich die nächsten Griffe fand. Es machte die Sache nicht einfacher, dass er schweigend zusah, und sie war heiß und atemlos, als sie sich neben ihm auf das Sims schwang.
»Du hast nicht aufgepasst«, empfing er sie unfreundlich, »ich hab gerufen, dass die Stelle schwierig ist und du auf meine Hände achten sollst. Wenn das Sims nicht wäre, säßest du jetzt schön in der Scheiße. Was ist heute los mit dir?«
»Nichts ist los mit mir«, fuhr sie ihn an, »ich hab es satt, wie du mich behandelst! Ich habe nicht gut geschlafen, es wäre nicht nötig gewesen, heute zu klettern. Immer behauptest du, ich sei noch nicht so weit, aber ich bin es leid, hinter dir herzuzockeln. Ich klettere so gut wie du!«
»So, meinst du? Weil du im schlimmsten Fall einen netten, kleinen Wind herbeirufen kannst?«, höhnte er. »Aber ich hab' dir schon mal gesagt, Wirbelwinde machen zu viel Aufsehen, das kann man in unserem Geschäft nicht gebrauchen.«
»Ich brauche keinen Wind«, erwiderte sie aufgebracht, »und ich schaffe jeden Weg so gut wie du. Sei nicht so verdammt eingebildet.«
Sie starrten sich böse an.
»Na schön, wir werden ja sehen«, lenkte er ein. »Wenn du es in deiner Schläfrigkeit noch schaffst dich abzuseilen, hören wir für heute auf.«
Den Rest des Tages verbrachten sie auf der Rennbahn, von der Wag ihnen schon lange vorschwärmte. Sie nahmen ihn mit und er unterhielt sich großartig bei einigen kleineren Übungsrennen, während Jermyn und Ninian sich langweilten. Jermyn verschwand schließlich in der Menge und tauchte nach einigen Stunden auf, mit drei prall gefüllten Börsen, die er in Wags Beutel leerte.
Er war guter Laune und Wag stichelte: »Ich dachte, das hätten wir nich mehr nötig, Patron.«
Jermyn lachte. »Ich will nicht aus der Übung kommen, wenn ich sehe, wie du mein Geld unter die Leute bringst, oder hast du heute nur gewonnen?«
Wag errötete schuldbewusst, aber es wunderte ihn nicht, dass der Patron wusste, wohin er die kleinen Geldbeträge trug, die er hier und da abzweigte. Jermyn beachtete ihn nicht weiter, unruhig sah er sich um.
»Wo ist Ninian?«
Wag schwenkte vage seinen Arm zu den Übungsbahnen. »Bei den Schützen, glaub ich. Da war so 'n Kerl mit 'nem Bogen, zu dem is sie hin.«
Jermyn drehte sich auf dem Absatz um und Wag trottete hinterdrein.
»Geschieht dir recht«, brummte er schadenfroh, »was lässte sie auch allein?«
Sie waren noch nicht weit gegangen, als Ninian ihnen entgegenkam und sich unbefangen bei ihnen einhakte.
»Was hast du gemacht?«, fragte Jermyn misstrauisch.
»Geschossen. Sie haben Zielscheiben aufgestellt«, erzählte sie, »man kann üben, aber sie machen auch Wettschießen. Ich habe Tyne getroffen, einen Wachmann vom Wagenzug. Er hat eine Hand verloren und kann nicht mehr als Wächter arbeiten, aber er ist ein guter Bogenmeister und sie haben ihn hier auf der Rennbahn angestellt. Er lobte mich, weil ich so kräftig geworden bin. Einen
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