AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
genug gewesen wäre, um sie zu tragen.
Verzweifelt hatte sie sich nach einem anderen Fluchtweg umgesehen und auch richtig an ihrem östlichen Rand ein viereckiges Einstiegsloch gefunden. Aber Jermyn hatte genau gewusst, dass auf diesem Weg kein Entrinnen möglich war: Sie schaute in einen pechschwarzen, bodenlosen Schacht. Die misstrauischen Alten hatten sich nicht auf ihre Mauern allein verlassen – es gab keine Steintreppen, sie hatten Leitern verwandt, die sie hochziehen konnten und das Holz war lange verrottet.
Vor hilfloser Wut waren ihr die Tränen gekommen. Abwechselnd hatte sie geheult und geflucht, bis sie heiser war. Unerträglich langsam war die Zeit vergangen, sie war auf dem Dach hin und her marschiert und hatte sich dabei ausgemalt, wie sie es Jermyn heimzahlen würde. Sie wusste, dass er sie befreien würde, aber die Vorstellung, von seiner Gnade abhängig zu sein, kränkte sie zutiefst und als letzte Demütigung hatte sie erfahren, dass man Hunger und Durst ertragen konnte, die drängende Notdurft jedoch nicht.
Zuletzt hatte sie sich auf dem Dach ausgestreckt, in den bleifarbenen Himmel gestarrt und gewartet. Aber sie hatte sich geschworen, dass Jermyn sie so nicht sehen sollte und als sie das Lachen in seiner Stimme gehört hatte, war ihre Wut auf den Siedepunkt gestiegen. Diesen Streich würde er büßen ...
Jermyn hockte auf einem Steinbrocken in der Vorhalle, den Kopf in die Hände gestützt, als sie hereinkam. Er sah auf, aber sie kletterte die Leiter hoch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Auch als sie kurz darauf mit einem Bündel zurückkam, beachtete sie ihn nicht und lief über den Hof zur Waschhütte.
Als sie die Halle wieder betrat, kräuselten sich die dunklen Locken feucht um ihr Gesicht. Sie trug Kleider, die sie aus Tillholde mitgebracht hatte und hatte ihren Beutel über die Schulter geworfen. Jermyn hob den Kopf, als er ihre Schritte hörte. Seine Augen weiteten sich.
»Wohin willst du?«
»Ins Stadthaus. Ich ... ich war zu lange nicht bei Luna.«
Sie ging an ihm vorbei hinaus in den Hof. Er folgte ihr zur Tür.
»Kommst du ... kommst du zurück?«
Seine Stimme war tonlos und sie erkannte, dass er Angst hatte. Angst, sie könne aus seinem Leben verschwinden. Wenn sie seine Frage überhörte, strafte sie ihn härter als mit all den albernen Streichen, die sie sich auf dem Turm ausgedacht hatte. Einen Augenblick lang war sie versucht, einfach weiterzugehen, aber sie brachte es nicht fertig.
»Morgen«, warf sie über die Schulter und lief über den Hof, ohne sich umzudrehen. Heute wollte sie nicht mit ihm unter einem Dach schlafen, aber während sie durch das Ruinenfeld rannte, merkte sie, dass sie bei all ihren Rachephantasien nicht einmal daran gedacht hatte, ihn zu verlassen.
Jermyn war das Lachen gründlich vergangen. Er kletterte in den Übungsraum hinauf und starrte auf das Sprossengestell, wo sie sich am Morgen noch aufgewärmt hatten. Sein Verlangen nach ihr war nicht schwächer geworden – im Gegenteil. Er bezwang es, unterdrückte es, aber mit jedem Tag brannte es heftiger. Die unbekümmerte Antwort, als sie am Volksplatz mit den adeligen Deppen aneinandergeraten war, hatte nichts von der nagenden Unruhe preisgegeben, die ihn stets befiel, wenn er sie aus den Augen verlor. Er hatte die Angst gut verborgen, wie er alles verbarg, das über Freundschaft hinausging, aber in manchen Nächten quälte ihn ihre Nähe so, dass er verzweifelt Erleichterung in den Ruinen suchte.
Nachdem er beschlossen hatte, ihr Zeit zu lassen, hatte er sich zusammengerissen, um sie nicht zu erschrecken. Es war ihm schwer genug gefallen, aber zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht mehr einsam. Es gab einen Menschen, der zu ihm gehörte, der da war, wenn er morgens erwachte, und dessen ruhige Atemtöne er hörte, wenn er nachts schlaflos durch die Räume wanderte. Ninian verachtete ihn weder noch fürchtete sie ihn, keine Gefolgschaftstreue band sie. Aus freien Stücken war sie bei ihm und zum ersten Mal erlebte er die Gnade der Freundschaft.
Aber er fürchtete, sie zu verlieren, wenn er versuchte, mehr als das zu bekommen. Also hatte er es sich streng verboten, sie zu berühren oder auch nur mit Begehren anzusehen.
Am Ende hatte er es zu gut gemacht. Vielleicht glaubte sie, den schäbigen Streich habe er ihr gespielt, weil ihm nichts an ihr lag.
Jermyn stöhnte.
Welch ein Narr war er gewesen! Er begriff immer noch nicht, warum sie da oben ausgeharrt hatte, aber er hatte
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