AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Einstieg ausgeguckt hatte, blieb Jermyn stehen. Er sah an der gewaltigen Masse der Mauer empor, rückte Seil und Beutel zurecht und holte tief Luft. Hoch über den Kopf griff er, seine Fingerspitzen glitten über körniges Gestein, bis sie eine winzige Höhlung fanden, die gerade drei Fingern Platz bot. Er packte zu, die andere Hand folgte und er stieß sich vom Boden ab. Die mit dünnen Lederstreifen umwickelten Zehen ertasteten kaum wahrnehmbare Ritzen und die nächste Armlänge folgte. Sein Atem beruhigte sich, als er in gleichmäßige Bewegungen fiel.
Bis drei Mannshöhen über dem Boden ging es leidlich voran. Er fand genügend Halt, um an zwei Stellen Haken in die Fugen zwischen den Quadern zu schlagen. Vorsorglich hatte er den Hammerkopf mit Leder umwickelt, so dass das helle Geräusch von Metall auf Metall gedämpft wurde. Es kostete Kraft, die Schenkel der Klammern aufzudrücken und in die Haken einzuhängen, aber die zusätzliche Sicherung durch das Seil war die Anstrengung wert. Außerdem verhalf es zu einem schnellen Abgang, wenn man es eilig hatte, was nicht selten vorkam in seiner Profession. Er entspannte sich und tastete nach dem nächsten Griff. Bis jetzt war alles gut gegangen.
Wag verfolgte Jermyns Aufstieg mit wachsendem Unbehagen. Als die dumpfen Hammerschlägen zu ihm drangen, sah er sich erschrocken um, aber nichts rührte sich. In seinem grauen Zeug verschmolz der verrückte Kerl dort oben beinahe mit der Mauer – solange er sich nicht bewegte. Als er sich jedoch weiterschob, war er im hellen Mondlicht deutlich zu sehen. Immer größer wurde der Abstand zum sicheren Erdboden. Bei einem Sturz konnte er von Glück sagen, wenn er sich nur die Beine brach. Er hämmerte und jetzt – sein Zuschauer hielt entsetzt den Atem an – rutschte er ab. Wag erstickte fast, bevor Jermyns Füße wieder Halt fanden. Der Haken aber landete klirrend auf dem Pflaster. Es hallte laut in der stillen Gasse und Wag huschte mit zitternden Knien hinüber, um ihn aufzuheben.
Jermyn fluchte leise und drückte sich eng an das kalte Gestein, bis sein Herzschlag sich gemäßigt hatte. Diese Wand war ärger als alles, was er bisher erlebt hatte. Der nächste Griff war winzig und so weit über ihm, dass er sich nur mit den beiden obersten Fingergliedern festhalten konnte. Gleich würde er wissen, ob er genug geübt hatte.
Die Innenseite der Füße gegen die unbarmherzigen Steine gepresst, stieß er sich ein wenig von der Mauer ab und begann sich hochzuschieben, quälend langsam. Nacken und Schultern brannten wie Feuer, das raue Gestein schürfte ihm die Haut von den Knöcheln. Seine Arme zitterten, Schweiß lief ihm in die Augen, er schmeckte ihn salzig und bitter im Mund.
Der Geschmack der Niederlage – er hatte nicht die Kraft, um diese Stelle zu überwinden, seine Finger wurden taub, er musste aufgeben, bevor sie ganz den Dienst versagten.
Vorsichtig ließ er sich in die vorige Stellung zurückgleiten. An die Mauer gepresst, rang er nach Atem, als er unten Stimmen hörte.
Wag hatten sie schon vorher in Angst und Schrecken versetzt. Als am Eingang der Gasse zwei Silhouetten erschienen, erstarrte er. Vielleicht gingen sie vorüber ... Doch die Stimmen wurden lauter, sie kamen näher.
Mit schlotternden Knien versuchte Wag sich an Jermyns Worte zu erinnern. Was sollte er noch machen? Sich räuspern und ausspucken – wie denn? Sein Mund war so ausgetrocknet, dass ihm die Zunge am Gaumen klebte. Sie waren mitten im Gebiet des Ehrenwerten Fortunagra, wenn sie seinen Häschern in die Hände fielen, war es aus.
Am ganzen Leibe zitternd versuchte Wag, ein wenig Speichel im Mund zu sammeln, um sich zu räuspern, aber er brachte nur ein würgendes Krächzen hervor. Vielleicht konnte er sich im Schatten des Torbogens verstecken, so dass sie ihn nicht bemerkten. Er drückte sich fest an die Wand und wartete mit wild klopfendem Herzen, dass sie vorübergingen. Aber nein, direkt neben dem Tor blieben sie stehen. Er hörte es plätschern – die Saubären pinkelten an die Hauswand!
»Oioioi ... w...was m...machssu denn hier?«
Weindunst schlug ihm ins Gesicht. Einer der Zecher stand dicht vor ihm und blinzelte misstrauisch.
»Oi, Pino, schau ma ... hier is'n Ei...Einbrecher, w...wir müssn die W...Wache rufn!«
Wag würgte vor Entsetzen, als auch der zweite näher schwankte und ihn anglotzte. Obwohl er sich zwang nicht hinaufzuschauen, spürte Wag mit jeder Faser seines Wesens Jermyn über sich an der Mauer. Wenn sie sich
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