AvaNinian – Zweites Buch
man kommt ja gar nicht an dich ’ran.«
Seine eifrigen Hände stießen auf bloße Haut und Ninian erschauerte.
»Lass doch. Willst du wissen, woher ich die Steine habe?«
»Nein, aber wie ich dich kenne, wirst du es mir trotzdem sagen.«
»Sie waren in dem Beutel, den du aus Fortunagras Geheimkammer mitgenommen hast.«
»Was?«
Diesmal war sie zu ihm durchgedrungen, die zärtlichen Finger auf ihrem Rücken hielten inne.
»Der Beutel lag im vorderen Zimmer«, fuhr sie eifrig fort, »du hast ihn nicht in das Versteck zurückgelegt, als du zuletzt darin herumgestöbert hast. Ich habe mich gelangweilt und angefangen, die Steine zusammenzusetzen. Das war das erste, was ich gefunden habe.«
Er beugte sich vor und betrachtete das Fragment, auf das sie deutete. Es zeigte eine achtblättrige Blume, in deren Mitte Buchstaben zu erkennen waren. »He, das kenne ich. Aber woher?«
Ungeduldig verdrehte sie die Augen. »Du bist schon hundert mal darübergelaufen. Die Blüte ist auf den Deckeln der Schächte, die in den großen Straßen in die Abwässerkanäle hinunterführen. Ich hab sie auch im Stadtgraben neben dem großen Abwasserrohr in der Stadtmauer gesehen und in der Flussmauer, wo das Schmutzwasser in den Fluss fließt, verstehst du?«
Er nickte langsam. »Und auf dem Platz vor dem Patriarchenpalast ist sie ganz groß im Boden eingelassen, da kann man sogar diese Inschrift entziffern.«
»Genau, die Blume ist das Zeichen des unterirdischen Kanalnetzes der Alten Stadt, das gibt’s ja immer noch. Also könnten diese Steine ...«
»... eine Karte des Kanalnetzes darstellen. Und warum sollte der Ehrenwerte Fortunagra diese Steine in seiner Geheimkammer aufbewahren ...«
»... wenn er nicht wüsste, dass die Karte sehr wichtig ist?«
Jermyn pfiff leise durch die Zähne, er befreite seine Hände und begann, die Bruchstücke, die sie zusammengefügt hatte, hin- und herzuschieben.
»Sehr weit bist du aber noch nicht gekommen.«
»Nein, es ist sehr schwierig zu entscheiden, welche Verbindungen richtig sind. Es gibt keine Anhaltspunkte, aber diese bunten Steine sehen aus wie Familienwappen.«
Sie deutete auf eine Ansammlung roter und weißer Steine, die das grobe Abbild eines Turmes mit drei Zacken darüber ergaben.
»Castlerea«, murmelte Jermyn. Er packte Ninian so fest am Arm, dass sie ächzte. Seine schwarzen Augen glänzten.
»Eine Karte der Kanäle und Gänge, durch die man die Häuser der Reichen unter der Erde erreichen konnte! Eine Diebeskarte! Jemand hat sich die Mühe gemacht, sie für die Ewigkeit festzuhalten. Kein Wunder, dass dieser gerissene Hund sie aufbewahrt hat. Aber genau wie du konnte er sie nicht zusammensetzen, weil ihm der Schlüssel fehlte. Er versteht die Bedeutung der Blume nicht oder er hat es nie versucht. Ninian, vielleicht sind darauf auch Gänge eingezeichnet, die zum Patriarchenpalast führen!«
»Au, vorsichtig, du kneifst. «
Jermyn sprang auf und lief die Decke hinter sich herschleifend ins Schlafgemach. Er war schnell zurück, fertig angekleidet. Seine Börse hatte er ausgeleert und warf sie auf den Tisch.
»Wir gehen zu Vitalonga, ich wette, er kann uns helfen. Nimm nur die Steine mit, die die Blume bilden und das Wappen von Castlerea!«
Er wartete ungeduldig, bis sie die Steinwürfel in die Börse gesammelt hatte, dann schoben sie die übrigen Steine in den Lederbeutel, den Jermyn sorgfältig in seiner Geheimkammer verbarg.
»Komisch, dass Fortunagra nie versucht hat, ihn zurückzuholen«, meinte Ninian, »wir hätten den Beutel wahrscheinlich nicht mal vermisst.«
Jermyn schloss die Täfelung. Er grinste.
»Der Ehrenwerte hält mich für einen doofen Gassenjungen, der keine Ahnung von Steinbildern und den Bauwerken der Alten hat. Er kann sich nicht vorstellen, dass diese Karte eine Waffe in meiner Hand sein kann, aber er wird sich wundern!«
Auf dem Weg zu Vitalonga blieben sie an einer Suppenküche stehen und verzehrten, an den gemauerten Herd gelehnt, dicke, süße Gerstensuppe. Ninian wärmte dankbar ihre Hände an dem heißen Napf und mochte sich gar nicht von der sanften Hitze der Herdsteine trennen, aber Jermyn zappelte vor Ungeduld.
»Komm schon, bei dem Alten ist es bestimmt auch warm.«
Seufzend verzichtete sie auf einen Nachschlag und zog sich den dünnen Schal über Nase und Mund. Seit Tagen lag ein übelriechender Dunst über der Stadt, besonders in der Nähe des Flusses. Jermyn tat es ihr nach und sie suchten sich einen Weg zwischen den Pfützen, in
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