AvaNinian – Zweites Buch
dem ganzen Pomp und Geglitzer - die Scheiße der ganzen Stadt. Und genauso kommt ihr Reichtum aus unserem Elend. Wir holen uns nur zurück, was uns gehört!«
Babitt rief sich die Karte in Erinnerung, die sie sich hatten einprägen müssen, denn Jermyn hatte verboten, eine Zeichnung von ihr anzufertigen.
Über dem Becken lagen die Kerker. Im untersten war eine vergitterte Luke in den Boden eingelassen, durch die die Leichen der armen Teufel verschwanden, die an den Entbehrungen des Kerkerlebens oder den Zuwendungen der Kerkermeister gestorben waren. Die Verliese waren gefürchtet. Kalt, feucht und von riesigen Ratten bevölkert, galt es unter den Gesetzlosen Deas nach dem Gang auf den Richtplatz als grausamste Strafe, dort eingesperrt zu sein. Babitt war gewiss nicht der einzige, der den kurzen Schmerz des Henkerbeils dem langsamen Verrotten vorgezogen hätte.
Sie würden auf der Treppe an den Kerkern vorbeisteigen und zu dem Gewölbe gelangen, das den verlorenen Seelen zum Hohn über ihren Köpfen lag - die Schatzkammer des Patriarchen!
»Zieht die Köpfe ein, die Decke wird niedrig!«
Die Worte tröpfelten durch die undurchdringliche Dunkelheit, selbst Ninians klare Stimme klang hier unten tonlos, der lockere Tuffstein dämpfte alle Laute. Unwillkürlich zog Babitt den Kopf ein und hob die Laterne höher. Die schmale Gestalt des Mädchens tauchte vor ihm im Lichtschein auf, sie hatte sich halb umgewandt und ihre Augen funkelten. Sie und Knots konnten gerade noch aufrecht stehen, für die anderen Männer hieß es, den Rücken krumm zu machen.
»Is alles in Ordnung?«, fragte Babitt leise. Ninian presste die Handflächen gegen den Felsen und nickte.
»Ja, alles ist ruhig, sie schlafen tief und fest. Kommt weiter!«
Babitt starrte hinter ihr her. Auch er war vertraut mit Erdreich und Gestein, doch sie sprach von ihnen, als seien sie empfindende Wesen, ja Freunde. Als sie als erste in den Tunnel geklettert war, hatte er Einspruch erhoben, aber Jermyn war ihm über den Mund gefahren.
»Diesmal nicht, liebster Babitt. Du wirst dein Leben lang nicht soviel Erfahrung mit der Unterwelt haben wie Ninian. Aber du darfst als zweiter hinterher, wenn’s dich freut, und leuchten, so hat sie wenigstens die Hände frei!«
Babitt packte den Stock der Laterne fester.
So war es von Anfang an gewesen. Seit die beiden das erste Mal in seinem Schlupfwinkel im besseren Teil des Gerberviertels aufgetaucht waren, hatte Jermyn die Führung übernommen.
Er hatte das nicht mit vielen Worten gesagt; er hatte nur in der Tür gestanden und die vier Männer in dem großen Wohnraum aus seinen schwarzen Augen gemustert, wie ein Meister sein Werkzeug prüft. Babitt schätzte seine Truppe, er kannte ihren Wert, doch unter diesem unbarmherzigen Blick hatte er plötzlich nur noch ihre Mängel gesehen.
Da hockte der große, ungelenke Mule mit den gewaltigen Kräften und dem kindlichen Gemüt. Die klobigen Hände baumelten untätig zwischen seinen Knien und aus seinen verschwommenen blauen Augen gaffte er die Neuankömmlinge an, ungeniert wie ein Kind, mit töricht offenstehendem Mund. Knots dagegen, klein und verwelkt, hielt den Blick krampfhaft auf die Finger gesenkt, die ruhelos mit der Schnur spielten. Mit fahrigen Bewegungen verknüpfte er das Band zu immer neuen Knoten, bis es nicht mehr ging und er sie wieder löste. Er musste dabei nicht hinsehen - selbst in der Nacht, wenn er nicht schlafen konnte, spielte er mit seinem Strick, bis ihm einer seiner Gefährten, gestört durch das nicht endende Schaben und Rascheln, einen Schuh an den Kopf warf. Als die schweigende Musterung andauerte, blickte er hilflos über Babitts linke Schulter, denn seine Augen standen kreuzweise.
Verärgert hatte Babitt seine Gefährten vorgestellt.
»Der da is Mule, er is ’n Künstler mit dem Brecheisen un schleppt mehr weg als drei von uns andren un er tut genau, was man ihm sagt. Der Kleine is Knots, hat bis jetz noch jedes Schloss geknackt, auch wenn’s so aussieht, als könnt er nich mal das Schlüsselloch finden.«
Der dritte Mann gehörte noch nicht lange zur Truppe und Babitt hatte gehofft, wenigstens mit ihm Ehre einzulegen.
»Das is Tartuffe. Er war Diener bei de Cornelis un is in Ungnade gefallen, schuldlos, verstehste? Sie wollten ihn auf die Galeeren schicken un da is er abgehaun, hat sich ’ne Weile auf der Straße rumgetrieben, war aber nix für so ’nen feinen Pinkel wie ihn. Wir ham ihn aus ’ner Schlägerei rausgefischt, wo sie ihm
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