Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
lehnte sie seinen Vorschlag ab, am Strand von Tel Aviv spazieren zu gehen, und las stattdessen in ihrem Zimmer. Von Angst und Verzweiflung umgetrieben schlief er ein. Am nächsten Morgen, als er die Augen aufschlug, fand er sie neben sich schlafend.
Marianka hatte nicht gescherzt, als sie sagte, sie wolle seine Eltern kennenlernen, weshalb er am Donnerstag seine Mutter anrief und erzählte, er habe eine Kollegin aus Belgien zu Gast. Seine Mutter sagte sogleich: »Vielleicht kommt ihr am Freitagabend zum Essen?« Und zu seiner Bestürzung lehnte er nicht dankend ab.
Am selben Tag rief sie noch zweimal an, um sich zu erkundigen, was Belgier denn so äßen und ob ihm Fleischklößchen in Soße angemessen erschienen. Sein Vater murrte im Hintergrund: »Was soll denn sein? Mach ihr Reis und Bohnen, das kennt sie sicher nicht.«
Marianka bestand darauf, eine Flasche Wein mitzubringen.
Zu seiner Überraschung wurde das Essen nicht zum Fiasko. Seine Eltern trugen ihre beste Kleidung, und sein Vater hatte sogar Schuhe angezogen. Sie hatten den Esstisch im Wohnzimmer gedeckt, und in die Mitte hatte seine Mutter eine Vase aus grünem Glas mit einem schönen Strauß weißer Rosen plaziert. Marianka trug ein schwarzes Kleid, und zum ersten Mal überhaupt sah er sie sich schminken. Seine Eltern fragten nicht nach der Art der Beziehung zwischen ihm und seinem Gast aus Belgien, und sie ihrerseits blieben jede Erklärung schuldig. Seine Mutter fragte Marianka aus nach dem Ursprung ihres Namens, und Marianka antwortete bereitwillig.
»Ach, dann sind Sie ja gar nicht aus Belgien«, sagte seine Mutter, und Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
»Na und, sind wir denn von hier? Meine Eltern sind aus dem Irak. Und wo, meinen Sie, ist meine Frau geboren? In Ungarn«, erklärte sein Vater.
Daraufhin zischte seine Mutter auf Hebräisch: »Was quatschst du denn da, interessiert es sie, wo ich geboren bin?«
Avraham spürte, wie Mariankas Finger unter dem Tisch seinen Oberschenkel hinaufwanderten. Seine Mutter räumte die Vorspeisenteller ab, und er folgte ihr in die Küche, um zu helfen.
»Sie ist bezaubernd. Und sehr hübsch. Wo hast du sie kennengelernt?«, flüsterte sie.
»Wir haben uns in Belgien getroffen«, antwortete er und beließ es dabei.
Marianka war am Tisch sitzen geblieben. Aus der Küche sah er, wie sie seinen Vater aufmerksam betrachtete. Sie war tatsächlich sehr hübsch, und er fragte sich, ob er nach belgischen oder slowenischen Kriterien etwa auch als gutaussehender Mann durchginge.
Die Unterhaltung auf Englisch fiel seinem Vater schwer. Anfangs versuchte er es noch, fiel dann ins Hebräische und wartete, dass Avraham seine Worte übersetzte, bis er zunehmend erschöpfter wurde und verstummte. Er stierte auf seinen Teller und führte die Gabel noch immer mit vorsichtigen Bewegungen zum Mund, als die anderen schon fertig waren.
Vor dem Essen hatte Avraham Avraham Marianka über den Zustand seines Vaters aufgeklärt, und jetzt hörte sie ihm geduldig zu, auch wenn er auf Hebräisch für sie unverständliche Dinge sagte. Gegen Ende des Essens flüsterte sein Vater plötzlich, wie zu sich selbst: »Gut, dass ihr das Land verlasst, ihr habt hier nichts mehr zu suchen.« Und dann wandte er sich an Marianka und sagte langsam auf Hebräisch: »Ich werde ihn sehr vermissen. Wissen Sie, wie sehr ich ihn liebe?«
Am nächsten Tag fuhren sie nach Jerusalem. Es war Sabbat, der letzte Tag ihres Urlaubs.
Zuerst streiften sie durch den westlichen Teil der Stadt. Avraham führte Marianka ins Viertel Nachlaot und zeigte ihr die kleinen Gassen, wo sein Großvater gelebt und er selbst ein Jahr während seiner Studienzeit gewohnt hatte. Die Stadt war menschenleer und kein Laut zu hören. In der stickigen Luft machte ihm die Trauer über den bevorstehenden Abschied das Atmen schwer.
Gleich zu Beginn ihres Besuches hatte Marianka gebeten, er solle ihr den Ölberg zeigen. Ihr Vater, der vor vielen Jahren einmal in Israel zu Besuch gewesen war, hatte ihr von dem heiligen Berg und der wunderschönen Aussicht, die man von dort auf Jerusalem hatte, erzählt. Avraham verfuhr sich ein paarmal auf den neuen Straßen, die nach Ostjerusalem führten, bis er schließlich den Weg gefunden hatte. Im Osten der Stadt nahm der Verkehr zu, und je weiter sie den Berg erklommen, desto mehr schwoll der Strom der Touristen an. Schließlich saßen sie auf einer Holzbank, und Jerusalem lag tatsächlich unter ihnen ausgebreitet da, flach und
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