Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Stift und begann zu schreiben:
Lieber Papa, liebe Mama,
ich schreibe Euch, damit Ihr Euch keine Sorgen mehr um mich macht. Ihr sollt wissen, dass ich gut angekommen bin.
Trotz allem, was passiert ist, geht es mir gut. Ich bin jetzt in Koper, einem kleinen, hübschen Provinzstädtchen. Ich glaube, es würde Dir gefallen, Papa, wegen dem schönen Hafen. Fürs Erste habe ich beschlossen hierzubleiben, aber wer weiß, vielleicht komme ich eines Tages zurück.
Ich bitte Euch um Verzeihung, für alles.
Der Eure,
Euer Sohn Ofer
Es gab niemanden, dem er den Brief hätte schicken können.
Er faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche, damit es niemand fand.
16
Er antwortete Marianka am Sabbatvormittag von zu Hause aus. Schrieb, dass die Ermittlung abgeschlossen und dass Ofer tot war. Noch sei nicht klar, ob und in welcher Form nach seinem Leichnam gesucht werden würde. Die Polizeibehörden auf Zypern, in der Türkei und in Griechenland seien gebeten worden, sich zu melden, sollte an einer ihrer Küsten ein Koffer mit der Leiche eines Jugendlichen angespült werden oder ein heimisches Fischerboot einen aus dem Wasser ziehen. Weitere Einzelheiten erwähnte er nicht, da er entschieden hatte, mit niemandem über den Ablauf der Ermittlungen zu sprechen.
Keine halbe Stunde später kam eine Antwort. Marianka drückte ihre Anteilnahme aus und fragte, wie es ihm gehe. Am Ende ihrer kurzen E-Mail schrieb sie: Manchmal helfen Gebete nicht .
Er antwortete, es gehe ihm schlecht und dass er plane, Urlaub zu nehmen, um wieder auf die Füße zu kommen. Und er fragte, wie es ihr gehe. Diesmal antwortete sie erst Stunden später, in der Nacht, und er las ihre Nachricht am ersten Tag der neuen Woche, morgens um halb sieben, kurz nachdem er aufgewacht war. Marianka schrieb, sie habe sich von Gijom getrennt und dass auch sie keine leichte Zeit durchmache. Die gemeinsamen Streifeneinsätze machten die Trennung nicht eben leichter. Auch sie habe vor, Urlaub zu nehmen.
Ohne darüber nachzudenken, ob es bloße Höflichkeit war, lud er Marianka ein, ihren Urlaub in Israel zu verbringen. Er versprach ihr, sich dann für die Sightseeingtour in Brüssel zu revanchieren. In Belgien war es erst halb sechs Uhr morgens, doch sie schrieb umgehend zurück: Are you serious?
Und er antwortete mit einem Wort: Yes.
Die Nachricht von der Aufklärung des Falles stand zu Wochenbeginn in allen Zeitungen, am selben Morgen, an dem Rafael Sharabi dem Richter vorgeführt wurde, um eine Haftverlängerung bis zur Eröffnung der Anklage zu erwirken. Ofers Tod war mit der Überschrift »Familientragödie in Cholon« betitelt. Die genauen Umstände der gewalttätigen Auseinandersetzung, die zu seinem Tod geführt hatte, wurden nicht näher ausgeführt. Das Gericht hatte, da Minderjährige involviert waren, ein Veröffentlichungsverbot über die meisten Fakten der Affäre verhängt. Wer den Fall kannte, wusste, warum die Zeitungen nur zurückhaltend über den Vater berichteten, der seinen Sohn getötet hatte. Dessen Anwälte behaupteten, er sei ein liebender Vater, dessen Welt durch das Unglück zerbrochen war. Und in einer der Meldungen hieß es, die Staatsanwaltschaft erwäge, ihn nicht wegen der Behinderung der polizeilichen Ermittlungen anzuklagen und so ein milderes Strafmaß zu ermöglichen. Über Ofer selbst war nur sehr wenig zu lesen, als wäre er schon vergessen.
Avraham Avraham lehnte alle Angebote der Polizeipressestelle ab, sich für Radiobeiträge oder das Fernsehen interviewen zu lassen, weshalb in den zwei Tagen, in denen die Medien Interesse an dem Fall zeigten, Schärfstein in insgesamt drei Fernsehsendungen auftrat und in einigen Morgenshows im Radio zu hören war. Er wurde zu der »komplizierten Ermittlung, über deren Einzelheiten wir nicht berichten dürfen«, befragt und lächelte, als verriete er ein Geheimnis, sooft von »raffinierten ermittlungstechnischen Schachzügen, die zur Aufklärung des Falles geführt haben«, die Rede war. Er äußerte Verständnis für das Unglück des Vaters, und auf die Frage eines Journalisten berichtete er, Rafael Sharabi bereue aufrichtig, die Tragödie verschleiert zu haben. Wenn er gebeten wurde, seine Gefühle bei der Aufklärung des Falles zu beschreiben, wiederholte Schärfstein auf allen Kanälen immer den einen Satz: »Es war zweifellos einer der schwersten Momente in meiner bisherigen Arbeit als Ermittler bei der israelischen Polizei, aber so etwas gehört eben zu unseren
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