Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
kritisierten ihn nicht wegen seiner Entscheidung, keine Suchmaßnahmen veranlasst zu haben, und erwähnten mit keinem Wort, dass in der vergangenen Nacht – abgesehen von ihm – nicht ein Polizist im ganzen Land gewusst hatte, dass Ofer vermisst wurde. Das machte jedoch sein Gefühl, etwas versäumt zu haben, nur noch unerträglicher.
Gegen Mittag war es ihm gelungen, ein provisorisches Team zu organisieren, fünf Beamte, darunter eine junge Polizistin aus dem Verkehrsdezernat, die ihre Schicht gerade beendet hatte und sich aus freien Stücken bereiterklärte, Überstunden zu schieben, und ein Ermittler aus der IT -Abteilung, der während der kurzen Fahrt vom Revier zu dem Haus in der Straße des Gewerkschaftsbundes mit ihm im Wagen fuhr.
Beim Einsteigen dachte Avraham Avraham, dass dies sicher die erste Fahrt in einem Streifenwagen für Hannah Sharabi sein musste. Er verfolgte im Rückspiegel, wie sie auf dem Rücksitz den Sicherheitsgurt anlegte.
In den darauffolgenden Stunden hatte er vor allem das Gefühl, dass ihm alles entglitt; dass es ihm nicht gelang, sein aus der Not geborenes Team und die Untersuchung so zu leiten, wie er es sich wünschte. Und dass alles Ilanas Schuld war. Ihre Abwesenheit hinderte ihn daran, logisch zu denken, obgleich ihm nicht klar war, warum. Jedenfalls war es ein Skandal – die leitende Beamtin der Abteilung für Sonderermittlungen verschwand mitten am Tag und war nicht mehr erreichbar.
Trotzdem versuchte er, die Ermittlung systematisch und logisch anzugehen. Das war seine eiserne Regel. Vor allem wollte er sich in aller Ruhe ungestört mit Hannah Sharabi unterhalten, doch das erwies sich als schlicht unmöglich. Die Wohnung glich einem Tollhaus. Seine Leute kamen und gingen, Nachbarn schauten herein, der Onkel hatte noch mehr Verwandte herbeigeschafft und ließ die Mutter nicht für einen Augenblick aus den Augen, er klebte an ihr wie ein Leibwächter. Und obendrein klingelte permanent das Telefon: jeden Augenblick ein anderes Telefon oder einer dieser Standardtöne, weswegen drei oder vier Leute gleichzeitig ihre Mobiltelefone herausholten, weil sie meinten, das Klingeln käme aus ihrer Tasche. Er wies die Verkehrspolizistin an, in der Wohnung für Ordnung zu sorgen und weiteren Personen den Zutritt zu verwehren. Für die Unterredung mit Hannah Sharabi brauchte er Ruhe. Er war überzeugt davon, dass dies der Schlüssel zum Erfolg wäre. Wenn er nur ein paar Minuten mit der Mutter zusammensitzen könnte und ihr eine Frage stellen, die er noch nicht gestellt hatte, ja, von der er noch nicht einmal wusste, wie sie lautete, eine Frage, die sich im Gespräch wie von selbst ergeben und ihr eine Information entlocken würde, von der sie selbst nicht einmal wusste, dass sie darüber verfügte – dann würde sich alles aufklären. Sie würde sich an etwas erinnern, das Ofer gesagt hatte. An einen Freund, den sie vergessen hatte zu erwähnen. Und die Polizei würden wissen, wo sie ihn zu suchen hatte. Schließlich waren nur wenig mehr als vierundzwanzig Stunden verstrichen, seit Ofer verschwunden war. Alles war noch möglich.
Er saß in seinem Wagen, um nachzudenken. Ein Beamter vom Revier rief an und teilte mit, Igor Kintjew sei jetzt zur Vernehmung da. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde er laut. Polterte, er habe vor zwei Stunden angerufen und die Sache abgeblasen, sie sollten Kintjew gefälligst zurück in seine Arrestzelle schaffen. Eine Frau, die er zuvor in der Wohnung gesehen hatte, kam zu seinem Wagen und fragte, ob es möglich sei, in der Straße Suchanschläge aufzuhängen. Ruhelos wanderte er danach vor dem Gebäude auf und ab, rauchte und versuchte abermals, Ilana ans Telefon zu bekommen. Rinat Pinto, die zu einer ersten Befragung in Ofers Schule geschickt worden war, kam ohne Ergebnisse zurück. Sie liefen sich am Hauseingang über den Weg, und sie fragte Avraham Avraham, ob sie weitere Lehrer und Freunde von Ofer befragen sollte. Ilana war nach wie vor nicht zu erreichen. Der Kollege aus der IT -Abteilung, der annahm, Avraham sei aufs Revier zurückgekehrt, rief ihn von der Wohnung der Sharabis aus an und berichtete, eine erste Überprüfung des E-Mail-Postfachs und des SMS -Speichers habe keine relevanten Informationen ergeben, und fragte, ob er die Familie um Erlaubnis bitten solle, die Festplatte zur Durchsicht mitnehmen zu dürfen.
Avraham Avraham erwiderte: »Warte einen Moment, ich bin gleich oben.« Er kehrte in die Wohnung zurück und bat, auf dem Balkon
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