Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
ein Telefonat gestört werden. Und falls nicht, falls das Unglück schon im Anmarsch war, war es besser zu warten und sein Eintreffen nicht noch zu beschleunigen.
Er verließ sein Büro, um sich einen Kaffee zu machen und auf dem Kopierer hinter dem Schalter des wachhabenden Beamten ein Dokument aus Igor Kintjews Untersuchungsakte zu kopieren. Das Revier brummte bereits vor morgendlicher Geschäftigkeit. Vor dem Schalter standen Einwohner Schlange. Zwei Polizistinnen vom Verkehrsdezernat hatten Wachdienst an der Eingangstür und unterhielten sich.
Und da sah er sie. Sie stand draußen vor dem Eingang, er erfasste sie durch die staubbedeckte Glastür. Sie trug, genau wie er es geahnt hatte, dieselben Kleider, in denen sie am Vorabend bei ihm gewesen war. Die abgewetzte Ledertasche hing an einem dünnen Riemen über ihrer Schulter, und in der Hand hielt sie das Mobiltelefon umklammert, als hätte sie es nicht für einen Augenblick losgelassen, seit sie sich verabschiedet hatten. Der Schmerz, den er verspürte, als er sie sah, war überraschend.
Ofer war nicht wiederaufgetaucht.
Avraham Avraham erstarrte für einen Moment, überließ dann den Kopierer sich selbst und eilte zu ihr. Er war schon im Begriff, seine Hand auf ihre Schulter zu legen, bemerkte aber rechtzeitig, dass sie nicht allein war. Er schaute den Mann an, der neben ihr stand, und fragte leise: »Er ist noch nicht zurück?«
»Ich bin Ofers Onkel«, erwiderte der Mann. »Mein Bruder hat mich heute Morgen um sechs angerufen und mir erzählt, was passiert ist. Sie sind der Beamte, der gestern mit Hannah gesprochen hat?«
Avraham Avraham antwortete ihm nicht. Er wandte sich an Hannah Sharabi und fragte: »Sie haben nichts von ihm gehört?« Doch sie schwieg beharrlich, als würde die Anwesenheit ihres Schwagers sie unsichtbar machen.
»Nichts«, erklärte der Onkel. »Sie haben ihr gesagt, dass die Polizei am Morgen mit der Suche beginnt.«
Er führte die beiden schnell in sein Büro, damit niemand etwas mitbekam.
Bis spät in den Vormittag blieben sie auf dem Revier. Avraham Avraham legte den Telefonhörer so gut wie nicht aus der Hand. Klapperte telefonisch abermals die Aufnahmestationen der Krankenhäuser ab, ging die Meldungen und Ereignisse durch, die sich im Laufe der Nacht angesammelt hatten, rückversicherte sich bei den Notrufzentralen des Distrikts. Alle paar Minuten verließ er das Zimmer und versuchte, Ilana ans Telefon zu bekommen, aber ihr Handy war abgeschaltet, und die Sekretärin des Ermittlungsdezernats sagte, sie nehme an einer Sitzung des nationalen Ermittlerstabs teil. Er wollte sich mit ihr beraten, vor allem jedoch wollte er der Erste sein, der ihr von der Geschichte erzählte.
Die Mutter war noch stiller als bei ihrem Gespräch am Vorabend. Er fragte sie, ob sie etwas trinken wolle, und sie schüttelte verneinend den Kopf. Auch als er ihr direkt Fragen zu Ofer stellte, antwortete der Onkel an ihrer Stelle. Erst als sie gefragt wurden, wie groß Ofer sei, und der Onkel sagte: »Eins fünfundsechzig«, mischte sich die Mutter ein und berichtigte: »Eins siebzig.« Dabei wog er nur ungefähr sechzig Kilo. Mit ihrer Unterstützung formulierte er eine kurze Vermisstenmeldung, holte ihre Erlaubnis ein, diese auf der Homepage der Polizei und auf ihrer Facebook-Seite zu veröffentlichen, und erklärte, dies sei auch der Text, der an die Medien gehen würde. Die Mutter legte einen Frischhaltebeutel, wie sie ihn bestimmt zum Verpacken von Schulbroten benutzte, auf den Tisch und zog sechs Fotografien von Ofer daraus hervor. Dies war der Augenblick, der ihm in der darauffolgenden Nacht, ehe er endlich einschlief, keine Ruhe lassen sollte. Am Morgen hatte er keine Zeit gehabt, die Bilder aufmerksam zu betrachten, und in der Nacht wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Hätte er darauf etwas sehen können? Vielleicht ja. Aber auch wenn nicht, sie hatte gewollt, dass er sich Ofer anschaute. Dass er etwas über ihn sagte.
Er fragte, welches die aktuellste Aufnahme sei, und brachte dann alle zum Einscannen. Auf dem Rückweg zu seinem Büro fiel ihm ein, dass Igor Kintjew um ein Uhr aus seiner Arrestzelle in der Haftanstalt Abu Kabir vorgeführt werden sollte, weshalb er dort anrief, um die Vernehmung abzusagen. Sie konnten ihn noch vier Tage lang in Untersuchungshaft behalten, das Verhör musste warten. Was ihn den ganzen Morgen über verwunderte, war, dass niemand ihm Vorwürfe machte. Weder der Onkel noch die Mutter. Sie
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