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Axis

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Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
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legte ihre kleine Hand auf seine Schulter. »Warum gehst du so weit von zu Hause weg? Wonach hast du gesucht?«
    »Ich weiß nicht.« Er deutete auf die Rose. »Aber ich habe das da gefunden.«
    Sulean kniete nieder, um sie sich anzusehen – langsam, sehr langsam, ihre alten Knie knackten dabei.
    Die Rose hatte im Tageslicht gelitten. Der dunkelgrüne Stängel war eingeknickt, die kristalline Knolle strahlte nicht mehr, und das Auge hatte seinen Glanz verloren. In der Nacht, dachte Isaac, war sie wie lebendig gewesen. Jetzt war sie wie tot.
    Sulean betrachtete sie lange. Dann fragte sie: »Was ist das, Isaac?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ist es das, wonach du hier gesucht hast?«
    »Nein. Ich glaube nicht.« Das war eine unvollständige Antwort. Die Rose, ja, aber nicht nur die Rose – etwas, wofür die Rose stand.
    »Wollen wir jemandem davon erzählen, Isaac? Oder soll es ein Geheimnis bleiben?«
    Er zuckte mit den Achseln.
    »Wir müssen nämlich zurück, weißt du.«
    »Ich weiß.« Er hatte nichts dagegen, zu gehen – die Rose würde es ohnehin nicht mehr lange machen.
    »Kommst du mit?«
    »Ja. Wenn ich dir Fragen stellen darf.«
    »Das darfst du. Ich hoffe, ich kann sie beantworten.«
    Also wandten sie sich von der Augenrose ab und gingen im gemächlichem Tempo der alten Frau nach Osten. Obwohl Isaac nicht geschlafen hatte, war er nicht müde. Er war hellwach – so wach wie kaum je zuvor – und überaus neugierig.
    »Wo kommst du her?«
    Es gab eine kurze Unebenheit in ihrem Schrittrhythmus, und für einen Moment dachte er, dass sie vielleicht nicht antworten würde. Doch dann sagte sie: »Ich wurde auf dem Mars geboren.«
    Es war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, und er hatte das Gefühl, dass es eine Wahrheit war, die sie lieber nicht preisgegeben hätte. Mars, dachte er.
    »Wie viel weißt du über die Hypothetischen?«
    »Wie seltsam.« Die alte Frau lächelte und sah ihn mit einem Blick an, den er als liebevoll interpretierte. »Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, um dich genau das Gleiche zu fragen.«
     
    Sie redeten bis zum Mittag, und Isaac erfuhr dabei viel Neues, als sie schließlich das Gelände der Gemeinschaft erreichten. Bevor sie durch das Tor traten, blieb er stehen und blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Rose war dort draußen, aber nicht nur die Rose. Die Rose war – was? Ein Fragment, ein Stück von etwas viel Größerem. Etwas, das ihn brennend interessierte. Und etwas, das sich für ihn interessierte.

 
9
     
     
    Turk fuhr durch einen der älteren Stadtteile, vorbei an Holzhäusern, die von chinesischen Siedlern feuerwehrrot angestrichen worden waren, und gedrungenen, drei- oder vierstöckigen Appartementhäusern aus ockerfarbenem Sandstein, der an den Klippen oberhalb von Candle Bay abgebaut wurde. Es war spät, die Straßen waren leer, am Himmel zeichneten Sternschnuppen ihre gleißenden Linien in die Dunkelheit.
    Vor einer halben Stunde hatte er Lise endlich erreicht. Er konnte das, was er zu sagen hatte, nicht am Telefon sagen, doch nach einem kurzen verdrucksten Frage-und-Antwort-Spiel schien sie begriffen zu haben, was los war. »Treffen wir uns, wo wir uns kennengelernt haben«, sagte sie. »In zwanzig Minuten.«
    Wo sie sich kennengelernt hatten – das war das La Rive Gauche, eine rund um die Uhr geöffnete Grillbar, im Einkaufsviertel westlich des Hafens gelegen. Lise war dort vor sechs Monaten mit einer Gruppe von Leuten aus dem Konsulat aufgetaucht, und einer von Turks Kumpeln hatte in dieser Gruppe einen Freund entdeckt und Turk an ihren Tisch gezerrt. Lise fiel Turk auf, weil sie ohne männliche Begleitung war und etwas an sich hatte, das er bei Frauen stets auf Anhieb attraktiv fand: ein Lachen, das in richtiger Dosierung und von Herzen kam. Er hütete sich vor Frauen, die zu viel lachten, und Frauen, die gar nicht lachten, gingen ihm auf die Nerven. Lise lachte sanft, aber unverstellt, und wenn sie Witze machte, dann nie, um sich in den Vordergrund zu spielen. Außerdem gefielen ihm ihre Augen – wie sie an den Seiten nach oben schwangen, das blasse Blaugrün der Iris – und das, was sie mit den Augen machte, wohin sie ihre Blicke schweifen, wo sie sie verweilen ließ.
    An diesem Abend sprach sie von ihrer Absicht, über die Berge nach Kubelick’s Grave zu reisen, und Turk gab ihr seine Visitenkarte. »Ist besser, als mit dem Auto zu fahren«, sagte er. »Ernsthaft. Sie müssten über den Mahdi-Pass, und die Straße ist zu

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