Ayesha - Sie kehrt zurück
der beiden Flügel ein wenig aufzudrücken, so daß wir uns hindurchzwängen konnten. Hinter uns fiel die schwere Tür lautlos wieder zu.
Wir hätten nun in der Apsis sein müssen, geblendet von dem grellen Licht der Feuersäulen. Doch sie waren gelöscht – oder wir hatten uns verirrt und befanden uns in einem anderen Raum. Es war völlig dunkel. Wir versuchten uns zur Tür zurückzutasten, konnten sie jedoch nicht wieder finden. Wir hatten uns verirrt.
Außerdem befand sich irgend etwas in diesem Raum, das uns bedrückte; wir wagten nicht zu sprechen. Wir traten ein paar Schritte weiter in das Dunkel und blieben stehen, weil wir merkten, daß wir nicht allein waren. Ich hatte das Empfinden, inmitten einer dichten Menge zu stehen, doch nicht von Männern und Frauen. Andere Wesen drängten sich um uns; wir konnten ihre Kleidung fühlen , sie jedoch nicht berühren; wir spürten ihren Atem, doch er war kalt . Die Luft bewegte sich, während sie hin und her gingen, eine dichte, schiebende, drängende Menge. Es war, als ob wir in eine Versammlung von Toten geraten wären, in eine Versammlung aller Menschen, die jemals hier gebetet hatten. Wir bekamen Angst – meine Stirn war schweißnaß, mein Haar sträubte sich. Wir schienen in eine Halle der Schatten geraten zu sein.
Endlich drang Licht durch das Dunkel, und wir sahen, daß es von der anderen Seite des Raums kam, von den beiden Feuersäulen zu beiden Seiten des Altars, die plötzlich aufgeflammt waren. Wir befanden uns also tatsächlich in der Apsis und standen nur wenige Schritte von der breiten Tür entfernt. Die beiden Feuersäulen verbreiteten keine gleißende Helligkeit wie sonst, sondern warfen nur ein mattes, düsteres Licht, das kaum bis zu uns reichte. Doch mir war es nur recht, wenn wir im tiefen Schatten blieben.
Wir konnten zwar nicht gesehen werden, konnten jedoch sehen. Dort saß Ayesha auf ihrem Thron, und – oh! – sie war grausig in ihrer totenähnlichen Majestät. Das dunkelblaue Licht der schwach brennenden Feuersäule beleuchtete ihre Gestalt, und sie saß hoch aufgerichtet, mit einem solchen Ausdruck von Stolz in Gesicht und Haltung, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Macht schien von ihr auszustrahlen. Ja, sie strömte aus ihren weit auseinanderliegenden Augen wie Licht von einem Edelstein. Sie wirkte wie eine Königin des Todes, die die Huldigungen der Toten entgegennahm. Oder der Lebenden? – Ich kann es nicht sagen, denn während dieser Gedanke durch meinen Kopf ging, erschien ein Schatten vor ihrem Thron und beugte das Knie vor ihr, und ihm folgte ein zweiter, und noch einer, und noch einer.
Bei dem Kniefall jeder dieser vagen, schattenhaften Wesen hob Ayesha ihr Zepter in Erwiderung des huldigenden Grußes. Wir konnten das leise Klingeln der Sistrum-Glöckchen hören, es war der einzige Laut in der Grabesstille, ja, und wir sahen, daß ihre Lippen sich bewegten, doch hörten wir nicht das leiseste Flüstern. Uns war klar, daß hier Geister der Hesea huldigten!
Wir griffen nacheinander, wie um Halt zu suchen. Wir schritten lautlos rückwärts, bis wir die Tür erreichten. Sie gab nach, als wir gegen das Holz drückten. Wir flohen durch den Tunnel und die Gänge entlang, bis wir unsere Räume erreicht hatten.
Oros stand vor der Tür, so wie wir ihn verlassen hatten. Er begrüßte uns mit seinem ständigen Lächeln und schien die Verstörung, die in unseren Gesichtern stand, nicht zu bemerken. Wir gingen schweigend an ihm vorbei, traten in unser Wohnzimmer und starrten einander an.
»Was ist sie?« flüsterte Leo. »Ein Engel?«
»Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon.« Bei mir selbst aber dachte ich, daß es viele Arten von Engeln gab.
»Und was waren diese ... diese Schatten? « fragte er weiter.
»Wahrscheinlich Gläubige, die gekommen waren, um ihr zu ihrer Transformation zu gratulieren. Und sicher waren es keine Schatten, sondern nur Priester in dunklen Roben, die eine geheime Zeremonie abhielten.«
Leo zuckte die Achseln, sagte aber nichts mehr.
Schließlich wurde die Tür geöffnet, Oros trat herein und sagte, daß die Hesea uns sofort zu sprechen wünsche.
Immer noch bedrückt von dem Erlebten – denn was wir gesehen hatten, war vielleicht unheimlicher, als alles, was vorangegangen war –, folgten wir dem Priester und fanden Ayesha in ihrem Zimmer sitzend, etwas müde, jedoch sonst unverändert. Die Priesterin Papave war bei ihr und hatte ihr gerade den königlichen Purpurmantel
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