Ayesha - Sie kehrt zurück
abgenommen, den sie im Tempel getragen hatte.
Ayesha winkte Leo zu sich heran, nahm seine Hand und blickte ihm prüfend ins Gesicht, und ich glaubte, Angst und Sorge in ihren Augen zu sehen.
Ich wandte mich um und wollte gehen, damit sie allein sein konnten, doch sie sah auf, lächelte mich an und sagte: »Warum willst du uns verlassen, Holly? Um noch einmal zum Tempel zu gehen?« Und sie sah mich bedeutungsvoll an. »Hast du der Statue der Mutter auf dem Altar Fragen zu stellen? Man sagt, daß sie zu Menschen spricht, die es wagen, allein von Sonnenuntergang bis Tagesanbruch neben ihr zu knien. Aber ich habe das oft getan, aber zu mir hat sie niemals gesprochen.«
Ich antwortete nicht, und sie schien auch keine Antwort zu erwarten, denn sie fuhr sogleich fort: »Nein, bleib bei uns und laß uns alle drückenden, düsteren Gedanken beiseiteschieben. Wir drei werden zusammen speisen, wie wir es früher taten, für eine Weile all unsere Ängste und Sorgen vergessen und fröhlich sein wie Kinder, die weder Sünde noch Tod kennen, oder die Veränderung, die der Tod in Wahrheit ist. Oros, erwarte meinen Herrn draußen. Papave, ich werde dich später rufen, um mich auszukleiden. Bis dahin sorge dafür, daß niemand uns stört.«
Der Wohnraum Ayeshas war nicht sehr geräumig, sahen wir beim Licht der Hängelampen, die ihn erleuchteten. Er war schlicht, doch reich möbliert. Die Felswände waren von Gobelins bedeckt, Tische und Stühle waren mit Silber eingelegt, doch das einzige Zeichen dafür, daß dies das Heim einer Frau war, waren ein paar Vasen mit Blumen.
»Ein armseliges Zimmer«, sagte Ayesha, »doch wohnlicher als der Ort, an dem ich zweitausend Jahre lang auf deine Rückkehr gewartet habe, Leo, denn sieh, jene Tür führt in einen Garten, in dem ich oft weile.« Sie setzte sich auf eine Couch und forderte uns durch eine Geste auf, ihr gegenüber Platz zu nehmen.
Das Essen war einfach. Für uns: hartgekochte Eier und kalter Wildbraten; für sie: Milch, ein paar kleine Kuchen und wilde Erdbeeren.
Nach dem Essen stand Leo auf, warf seine prächtige, mit Gold und Purpur bestickte Robe ab, die er noch immer trug, und schleuderte das Haken-Zepter, das ihm Oros in die Hand gedrückt hatte, auf einen Sessel.
Ayesha blickte lächelnd zu ihm auf und sagte: »Du scheinst keinen sonderlichen Respekt für diese heiligen Embleme zu haben.«
»Sehr richtig«, antwortete er. »Du hast gehört, was ich im Tempel gesagt habe, Ayesha, also laß uns jetzt einen Pakt schließen. Deine Religion verstehe ich nicht, aber ich verstehe die meine, und nicht einmal um deinetwillen werde ich an Zeremonien teilnehmen, die ich für Götzendienst halte.«
Ich erwartete, daß sie nun zornig werden würde, doch sie senkte den Kopf und sagte ergeben: »Dein Wille ist der meine, Leo, obwohl es nicht immer leicht sein wird, deine Abwesenheit von den Zeremonien im Tempel zu erklären. Doch du hast das Recht auf deinen eigenen Glauben, der ja auch der meine ist.«
»Wieso das?« Er sah sie erstaunt an.
»Weil alle großen Religionen gleich sind, mit einigen kleinen Veränderungen, um sich den Bedürfnissen der verschiedenen Völker und den verschiedenen Zeiten anzupassen. Was lehrten wir in Ägypten, das wir, in gewisser Weise, nicht auch hier befolgten? Daß verborgen in einer Unmenge von Manifestationen eine Kraft, die groß und gütig ist, das gesamte Universum regiert; daß die Heiligen das ewige Leben gewinnen sollen, und die Bösen den ewigen Tod; daß die Menschen nach ihren Herzen und ihren Taten beurteilt werden und hernach den Trank trinken sollen, den sie selbst gebraut haben; daß ihre wahre Heimat nicht die Erde ist, sondern ein Land jenseits der Erde, wo alle Rätsel gelöst und alle Sorgen getilgt werden. Sag, glaubst du nicht genauso wie ich an diese Dinge?«
»Ja, Ayesha, doch deine Göttin ist Isis oder Hes, denn hast du uns nicht berichtet, daß du in der Vergangenheit mit ihr zu tun gehabt hast? Und haben wir nicht gehört, wie du zu ihr gebetet hast? Wer ist diese Göttin Hes?«
»Wisse, Leo, daß sie alles ist – die Seele der Natur, keine Gottheit, sondern der verborgene Geist dieser Welt, die universelle Mutterschaft, deren Symbol du im Tempel gesehen hast, und in deren Mysterien alles irdische Leben und Wissen verborgen ist.«
»Verfolgt diese gnadenvolle Mutterschaft ihre Anhänger auch mit Tod und Leid, so wie sie dich – wie du berichtet hast – für deinen Ungehorsam bestrafte; und mich, und eine andere,
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