Ayesha - Sie kehrt zurück
nur weil vor unendlich langer Zeit irgendwelche obskure Eide gebrochen wurden?« fragte Leo ruhig.
Ayesha stützte die Arme auf den Tisch und sah ihn ernst an.
»Gibt es in deinem Glauben nicht auch zwei Götter, beide mit einer großen Zahl von Helfern und Dienern: einen Gott des Guten, und einen Gott des Bösen, einen Osiris und einen Set?«
Er nickte.
»Ich wußte es. Und der Gott des Bösen ist mächtig, nicht wahr, und kann sogar die Gestalt des Guten annehmen. Sag mir dann, Leo: hast du jemals in dieser, der heutigen Welt, von der ich so wenig weiß, von anfälligen Seelen gehört, die sich um irdischer Güter willen diesem Bösen verschrieben haben und dafür den Preis in Bitterkeit und Leid zahlen mußten?«
»Das tun alle schlechten Menschen in dieser und jener Form«, sagte er.
»Und wenn es einmal eine Frau gegeben hat, die von Sinnen war in ihrem Hunger nach Schönheit, und Leben, und Weisheit, und Liebe, könnte sie nicht ... – oh! – könnte sie nicht vielleicht ...?«
»Sich dem Gott, den du Set nennst, verkauft haben, oder einem seiner Engel? Ayesha, willst du damit sagen ...« – Leo stand auf und sagte mit einer vor Angst heiseren Stimme –: »... daß du so eine Frau bist?«
»Und wenn ich es wäre?« fragte sie, erhob sich ebenfalls und trat auf ihn zu.
»Wenn du es wärst«, sagte er heiser, »dann halte ich es für besser, wenn wir unser Schicksal getrennt erfüllen ...«
»Ach!« Es klang wie ein Schmerzensschrei als ob jemand ein Messer in ihre Brust gestoßen hätte. »Willst du mich verlassen und zu Atene gehen? Ich sage dir, daß du mich nicht verlassen kannst . Ich besitze Macht – über alle Menschen, und du solltest das wissen, du, den ich dereinst tötete. Nein, du hast keine Erinnerung, du arme Kreatur eines Atemzuges, doch ich – ich erinnere mich nur zu gut, und ich will dich nicht noch einmal tot in meinen Armen halten – sondern lebend. Sieh meine Schönheit an, Leo« – sie neigte ihren makellosen Körper ihm zu und sah ihn mit ihren wunderbaren, verführerischen Augen an –, »und verlasse mich, wenn du kannst. – Ah, du kommst näher zu mir ... Mann, das ist nicht der Weg der Flucht!
Nein, ich will dich nicht mit diesen gewöhnlichen, weiblichen Reizen festhalten. Geh, Leo, wenn du das willst! Geh, mein Geliebter, und überlasse mich meiner Einsamkeit und meiner Sünde! Jetzt – sofort! Atene wird dich bis zum Frühjahr aufnehmen, bis du die Berge überqueren und in deine Welt zurückkehren kannst, zu jenen Dingen des alltäglichen Lebens, die dir Freude machen. Sieh, Leo, ich lege meinen Schleier um, damit meine Schönheit dich nicht verführt!« Sie zog ein Tuch, das locker um ihren Hals lag, vor den unteren Teil ihres Gesichts.
»Warst du nicht vorhin mit Holly im Tempel?« fragte sie plötzlich durch das feine Seidentuch. »Nachdem ich dich gebeten hatte, mich für eine Weile allein zu lassen? Ich glaubte, euch beide bei der Tür stehen zu sehen.«
»Ja, wir kamen, um dich zu suchen«, antwortete er.
»Und habt mehr gefunden, als ihr suchtet, wie es oft geschieht, wenn man neugierig ist – stimmt es nicht? Nun, ich habe euch durch meinen Willen gezwungen, zu kommen und alles zu sehen – und ich habe euch beschützt, wo andere gestorben wären.«
»Was hast du dort im dunklen Tempel getan, und was waren diese Gestalten, die wir sahen, als sie sich vor deinem Thron verneigten?« fragte Leo kühl.
»Ich habe in vielerlei Gestalt in vielen Ländern regiert, Leo. Vielleicht waren es alte Gefährten und Diener, die gekommen waren, um mich zu begrüßen. Oder vielleicht waren es nur Schatten deiner Phantasie, wie jene Gestalten auf der Feuerwand, die hervorzurufen mir gefiel, um deine Stärke und Beständigkeit zu prüfen.
Leo Vincey, wisse die Wahrheit! Alle Dinge sind Illusionen, selbst Vergangenheit und Zukunft, denn was gewesen ist, und was sein wird, ist bereits für ewig. Wisse, daß ich, Ayesha, nur ein magischer Geist bin, schlecht, wenn du mich schlecht siehst, und gut, wenn du mich gut siehst; eine Geisterblase, die im Sonnenlicht deines Lächelns tausend Lichter reflektiert, grau wie Staub und platzend im Schatten deines Stirnrunzelns. Denk an die Königin auf ihrem Thron, vor der sich die schattenhaften Mächte verneigen, denn das bin ich. Denk an die häßliche, hinfällige Gestalt, die du nackt auf dem Fels stehen sahst, denn das bin ich. Oder sieh meine Schönheit und verehre mich im Wissen, daß alles Böse in meinem Geist liegt, denn
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