Ayesha - Sie kehrt zurück
verborgen habe. Ihr seht diesen Mann, den ihr bisher für einen Fremden hieltet, der zusammen mit seinem Gefährten zu unserem Schrein gekommen ist. Ich sage euch aber, daß er kein Fremder ist, sondern daß er vor langer, langer Zeit, in einem vergessenen Leben, mein Herr war, der nun zurückgekommen ist, um die Geliebte wiederzufinden. Sag, ist es nicht so, Kallikrates?«
»So ist es«, antwortete Leo.
»Priester und Priesterinnen der Hes, wie ihr wißt, war es von Anbeginn das Recht jener, die auf diesem Platz sitzt, einen zu wählen, der ihr Herr sein soll. Ist es nicht so?«
»So ist es, o Hes.«
Sie machte eine kurze Pause und wandte sich dann mit einer hingebungsvollen Geste Leo zu, verneigte sich dreimal vor ihm und sank auf die Knie.
»Sag du«, sprach sie und blickte mit ihren dunklen Augen zu ihm auf, »sage vor allen, die hier versammelt sind, und vor den Zeugen, die dir unsichtbar bleiben, wirst du mich wieder zu deiner anverlobten Braut nehmen?«
»Ja, Herrin«, antwortete er mit zitternder Stimme, »jetzt und immerdar.«
Ayesha erhob sich, ließ ihr Sistrum zu Boden fallen und streckte ihre Arme nach ihm aus.
Leo beugte sich zu ihr herab, und es sah aus, als wollte er sie auf den Mund küssen. Doch ich bemerkte, daß sein Gesicht bleich wurde, als es sich dem ihren näherte. Und während das Leuchten auf ihrer Stirn auch auf die seine fiel, begann dieser kräftige Mann wie Espenlaub zu zittern und ich fürchtete, er würde bewußtlos zu Boden sinken.
Ich weiß, daß Ayesha es auch merkte, denn bevor sich ihre Lippen trafen, schob sie ihn von sich, und ein Ausdruck von Angst stand auf ihrem Gesicht.
Es hatte alles nur eine knappe Sekunde gedauert. Sie hatte sich von ihm gelöst, hielt aber noch immer seine Hand, als ob sie ihn stützen wollte. So standen sie, bis er sich wieder gefaßt hatte und seine Kräfte zurückkehrten.
Oros hob das Zepter auf und reichte es ihr, und sie reckte es empor und rief: »O Geliebter und Herr, nimm nun den Platz ein, der für dich vorbereitet ist, und auf dem du von nun an und für immer an meiner Seite sitzen sollst, denn mit mir gebe ich dir mehr, als du ahnen kannst, mehr, als ich dir jetzt sagen will! Steig nun auf deinen Thron, o Anverlobter der Hes und nimm die Verehrung deiner Priester entgegen!«
»Nein«, sagte er und zuckte zusammen, als das harte Wort in seine Ohren drang. »Hier und jetzt erkläre ich ein für allemal; ich bin nur ein Mensch, und ich weiß nichts von fremden Göttern, von ihren Attributen und ihren Zeremonien. Niemand auf dieser Erde soll sein Knie vor mir beugen, Ayesha, und ich beuge das meine allein vor dir.«
Nach diesen stolzen Worten blickten einige, die sie gehört hatten, Leo erstaunt an und begannen miteinander zu flüstern.
Und eine Stimme rief: »Hüte dich, Erwählter, vor dem Zorn der Mutter!«
Wieder stand sekundenlang Angst in Ayeshas Gesicht, dann lachte sie auf und sagte: »Wahrlich, das sollte mir genügen. Für mich, o Geliebter, deine Verehrung, für dich, der Verlobungsgesang, nicht mehr.«
Da Leo keine andere Wahl blieb, stieg er auf den Thron, und trotz seiner männlichen Statur, die durch die festliche Robe noch hervorgehoben wurde, machte er dort oben einen recht unglücklichen Eindruck, doch das wäre wohl bei jedem Mann seiner Rasse und seines Glaubens nicht anders gewesen. Falls irgendein heidnischer Ritus der Anbetung vorgesehen gewesen sein sollte, fand Ayesha Mittel und Wege, ihn zu verhindern, und bald war der ganze Zwischenfall vergessen, sowohl von den Sängern, die sangen, als auch von denen, die dem nun folgenden Choral lauschten.
Von seinen Worten konnten wir leider nur sehr wenig verstehen, da der Gesang in einer geheimen, priesterlichen Sprache vorgetragen wurde, doch sein Sinn war unmißverständlich.
Den Anfang machten die Frauenstimmen, die leise und zart einsetzten und eine Impression von Zeit und Entfernung hervorriefen. Dann folgten Ausbrüche der Freude, die sich mit melancholischen Harmonien abwechselten, Ausdruck von Seufzern und Tränen und Leid, die lange ertragen werden mußten, und das Finale war ein jubelnder, triumphierender Chor, in den Männer- und Frauenstimmen alternierten, um vereint in den Schlußchor zu fallen, der mehrere Male wiederholt wurde, lauter und immer lauter und noch mehr gesteigert, bis er in einem Dröhnen von Melodie und Harmonie kulminierte und dann plötzlich abbrach.
Ayesha stand auf und hob ihr Zepter, worauf alle Versammelten sich dreimal vor ihr
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