Ayesha - Sie kehrt zurück
ich sah Ayesha neben ihrem Toten wachen. Stunde um Stunde hielt sie so Wache, den Kopf in eine Hand gestützt, schweigend, reglos. Sie weinte nicht, kein Seufzer entrang sich ihrer Brust, sie wachte nur, wie eine zärtliche Mutter über ihr schlafendes Kind wachen mochte, das bei Anbruch des neuen Tages wieder erwachen wird.
Ihr Gesicht war unverschleiert, und ich sah, daß es sich stark verändert hatte. Aller Stolz und aller Zorn waren aus ihrer Miene verschwunden; sie wirkte jetzt sanft, voller Vertrauen und Ruhe. Zunächst wußte ich nicht, woran mich Ayeshas Gesicht erinnerte, bis es mir plötzlich einfiel. Jetzt war ihr Gesicht wie das der heiligen, majestätischen Mutter-Statue in der Apsis des Tempels. Ja, mit einem solchen Ausdruck von Liebe und Macht, wie ihn diese Mutter zeigte, die ihr verängstigtes, aus dem Tod eines Traums erwachtes Kind ansah, blickte Ayesha auf ihren Toten, und ihre leicht geöffneten Lippen schienen ebenfalls eine Geschichte unsterblicher Hoffnung zu erzählen.
Schließlich erhob sie sich und trat in meine Kammer.
»Du glaubst, daß ich trauere und trauerst mit mir, mein lieber Holly«, sagte sie mir ihrer sanften Stimme, »da du meine Ängste kanntest, daß so ein Schicksal meinem Herrn zufallen mochte.«
»Ja, Ayesha, ich trauere für dich, und für mich.«
»Spar dir dein Mitleid, Holly, denn obgleich der menschliche Teil von mir ihn auf dieser Erde festhalten wollte, jubelt meine Seele darüber, daß er für eine Weile die Fesseln der Sterblichkeit gesprengt hat. Lange Jahre hindurch habe ich, obwohl ich mir dessen nicht bewußt war, in meiner stolzen Mißachtung des ›Universellen Gesetzes‹ gegen seine wahre Bestimmung gekämpft – und gegen die meine. Dreimal haben der Engel und ich miteinander gerungen und unsere Kräfte gemessen, und dreimal hat der Engel mich besiegt. Doch als er heute nacht die Palme des Sieges davontrug, hat er Weisheit in mein Ohr geflüstert. Und dieses war seine Botschaft: daß der Tod das Heim der Liebe ist, daß im Tod Kraft liegt, daß diese Liebe aus dem Beinhaus des Lebens aufersteht, um in Glanz und Macht immerdar zu herrschen. Deshalb trockne ich meine Tränen und gehe, wieder zur Königin des Friedens gekrönt, zu ihm, den wir verloren haben, dorthin, wo er auf uns wartet, so wie es mir gewährt und versprochen worden ist.
Aber ich bin selbstsüchtig und vergaß, daß du Ruhe brauchst, Holly. Schlafe, mein Freund, schlafe!«
Und ich schlief sofort ein, doch als sich meine Augen schlossen, fragte ich mich, woher Ayesha diese unerklärliche Gewißheit und Ruhe nahm. Ich weiß es auch heute noch nicht, doch sie waren in ihr, wirklich und nicht nur erzwungen oder gespielt. Ich kann deshalb nur annehmen, daß irgendeine Erleuchtung über sie gekommen war und daß, wie sie gesagt hatte, Liebe und Tod Leos auf eine mir unerklärliche Weise ihr Sündenkonto tilgten.
Zumindest schienen diese Sünden und die Last des Toten, die vor ihrer Schwelle lagen, sie niemals zu bedrücken. Sie schien sie lediglich als Ereignisse zu betrachten, die vorbestimmt waren und so geschehen mußten, verhängnisvolle Früchte einer Saat, die vor langer Zeit von der Hand des Schicksals ausgesät worden war, für dessen Wirken sie sich nicht verantwortlich fühlte. Die Ängste und Überlegungen, welche bei Sterblichen ein so großes Gewicht haben, schienen sie nicht zu bedrücken. In dieser wie in anderen Fragen war Ayesha ihr eigenes Gesetz.
Als ich erwachte, war es heller Tag, und durch das Fenster sah ich den Regen herabströmen, den die Menschen von Kaloon so lange erfleht hatten. Ayesha, die noch immer neben dem jetzt mit einem Tuch verhüllten Leichnam Leos saß, erteilte einigen Priestern und Häuptlingen Befehle. Anschließend empfing sie einige Adelige, die das Massaker von Kaloon überlebt hatten, und erteilte ihnen Anweisungen über die Aufstellung einer neuen Regierung für das Land. Dann schlief ich wieder ein.
Es war Abend, und Ayesha stand neben meinem Bett.
»Es ist alles bereit«, sagte sie. »Steh auf und reite mit mir!«
Also brachen wir auf, eskortiert von tausend Mann Kavallerie, denn die anderen blieben zurück, um das Land Kaloon zu besetzen, und vielleicht auch auszuplündern. An der Spitze unserer Kavalkade wurde der Leichnam Leos von berittenen Priestern getragen. Hinter ihm ritt Ayesha, und ich war an ihrer Seite.
Es war ein seltsamer Kontrast zwischen unserem Aufbruch und unserer Ankunft in dieser Stadt, erst vierundzwanzig
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