Ayesha - Sie kehrt zurück
Warnungen des alten Abtes, dieses gutherzigen und gelehrten Mannes, der auch die vorausblickende Weisheit besaß, die Männern wie ihm gegeben ist, beunruhigten mich zutiefst. Er hatte uns gewarnt, daß wir jenseits der Berge Kummer und Blutvergießen begegnen würden, die mit dem Tod und einer Wiedergeburt zu einem Leben voller Elend enden mußten. Nun, vielleicht hatte er recht, aber kein noch so schweres Leid, das uns bevorstehen mochte, konnte uns aufhalten. Um ihr Gesicht wiederzusehen, war ich bereit, ihm zu trotzen. Und wenn es schon bei mir so war, wie stark mußte Leo es empfinden!
Eine seltsame Theorie: die Annahme Kou-ens, daß Ayesha die Göttin des alten Ägyptens war, der Kallikrates als Priester diente, oder zumindest ihre Repräsentantin. Daß er die königliche Amenartas, mit der er geflohen war, verführte und die Göttin betrog, der er die Treue geschworen hatte. Daß diese Göttin in Ayesha wiedergeboren wurde – oder daß sie die Ayesha und ihre Leidenschaften als ihre Werkzeuge benutzt und in Kôr Rache geübt hatte, und daß in einem späteren Leben der Pfeil, den sie abgeschossen hatte, sie selbst traf.
Nun, daran hatte ich selbst auch schon gedacht, nur war ich sicher, daß Sie keine wirkliche Göttin sein konnte, wenn auch vielleicht die Manifestation einer Göttin, eine Priesterin, eine Botin, die den Auftrag hatte, einen göttlichen Willen zu vollstrecken, zu belohnen oder zu strafen, sie selbst jedoch ein Mensch, mit Hoffnungen und Leidenschaften, die nach Erfüllung verlangten, mit einer Bestimmung, die erfüllt werden mußte. In Wahrheit, wenn ich jetzt über diese Dinge schreibe, da alles vorbei und vergangen ist, finde ich viele Bestätigungen dafür, und nur weniges, das gegen diese Theorie spricht, da ein Leben und die Macht von einer Größe, die nur stärker als die eines Sterblichen sind, nicht ausreichen, um eine Seele göttlich zu machen. Andererseits aber muß man bedenken, daß Ayesha, zumindest bei einer Gelegenheit, andeutete, eine ›Tochter des Himmels‹ zu sein, und einige Menschen, besonders der alte Schamane Simbri, schien es für erwiesen zu halten, daß sie übernatürlichen Ursprungs war. Doch von all diesen Dingen werde ich sprechen, wenn es so weit ist.
Jetzt stellte sich für uns zunächst die Frage: was lag jenseits der Berge? Würden wir sie dort finden, die das Zepter führte und auf Erden die Macht der tödlich beleidigten Isis' besaß, und mit ihr jene andere Frau, die ihr das Unrecht zugefügt hatte? Und wenn wir sie finden sollten, würde der entsetzliche, unmenschliche Kampf seinen Höhepunkt um die Person des sündigen Priesters finden? In ein paar Monaten, vielleicht in wenigen Tagen, würden wir es wissen.
Zutiefst aufgewühlt von diesem Gedanken fiel ich endlich in Schlaf.
4
Die Lawine
Am Morgen des zweiten Tages nach dieser Nacht befanden wir uns bei Sonnenaufgang bereits auf unserem Weg durch die Wüste. Eine Meile hinter uns konnten wir die verfallene Buddha-Statue sehen, die vor dem alten Kloster stand, und in der klaren, trockenen Wüstenluft erkannten wir sogar die gebeugte Gestalt unseres Freundes, des alten Abtes Kou-en, der am Sockel der gigantischen Statue lehnte und uns nachblickte, bis er uns aus den Augen verlor. Alle Mönche hatten geweint, als wir uns von ihnen verabschiedet hatten, und Kou-en noch bitterlicher als die anderen, da er uns in der Zwischenzeit liebgewonnen hatte.
»Ich bin traurig«, hatte er gesagt, »sehr traurig, und das dürfte ich nicht, denn so ein Gefühl grenzt an Sünde. Doch finde ich Trost, denn obwohl ich weiß, daß ich mein derzeitiges Leben sehr bald verlassen werde, werden wir uns wiedersehen, in einer oder mehreren unserer zukünftigen Inkarnationen, und nachdem ihr eure närrischen Ambitionen überwunden habt, gemeinsam den Weg zum letzten Frieden beschreiten. Nun nehmt meinen Segen und meine Gebete mit euch und geht. Und vergeßt nicht, daß ihr, falls ihr lebend zurückkehren solltet ...« – und bei diesen Worten schüttelte er zweifelnd den Kopf –, »ihr hier immer willkommen seid.«
Wir umarmten ihn und gingen.
Man wird sich erinnern, daß ich meinen Kompaß bei mir hatte, als das geheimnisvolle Licht auf uns fiel, während wir auf dem einsamen Gipfel waren, und ich so die ungefähre Richtung bestimmen konnte, aus der das Licht gekommen war. Da wir keine genaueren Angaben hatten, marschierten wir also in diese. Richtung, nach Nordosten. Den ganzen Tag über durchquerten
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