Ayesha - Sie kehrt zurück
Schnee und Sturm sicher zur Tür des Klosters, wo der alte Abt uns vor Freude und Erleichterung umarmte und die Mönche Dankgebete intonierten. Denn sie waren sicher gewesen, daß wir umgekommen wären. So einen Sturm, sagten sie immer wieder, habe ein Mensch noch nie überlebt.
Es war aber noch immer mitten im Winter, und – oh! – wie unendlich langsam diese Monate des Wartens vergingen. Wir hielten den Schlüssel in unseren Händen, und im Nordosten, zwischen den Gipfeln der Fernen Berge befand sich die Tür, die er öffnen würde, doch wir hatten noch nicht die Möglichkeit, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Denn zwischen uns und der Tür lag die weite Wüste, über die immer wieder Stürme Wolken von Schnee fegten, und bevor dieser Schnee nicht geschmolzen war, konnten wir ihre Durchquerung nicht wagen. Also hockten wir tatenlos in dem Kloster und übten uns in Geduld.
Doch selbst in diese Eiswildnis Zentralasiens kam endlich der Frühling. Eines Abends wurde es wärmer, und in dieser Nacht hatten wir nur wenige Frostgrade. Am nächsten Vormittag zogen dunkle Wolken auf, und aus ihnen fiel kein Schnee, sondern Regen. Es regnete drei Tage lang, und der Schnee schmolz vor unseren Augen. Am vierten Tag rauschten mächtige Wassermassen von den Bergen, und die Wüste war wieder braun und öde. Doch nicht für lange. Eine Woche darauf sproß ein Teppich von Blüten aus dem braunen Sand, und wir wußten, daß jetzt für uns die Zeit des Aufbruchs gekommen war.
»Aber wohin wollt ihr gehen? Wohin wollt ihr gehen?« fragte der alte Abt immer wieder. »Seid ihr nicht glücklich hier? Macht ihr nicht große Schritte auf dem Weg? Gehört nicht alles, was wir besitzen, auch euch? Warum wollt ihr uns verlassen?«
»Wir sind Reisende«, antworteten wir, »und wenn wir Berge vor uns sehen, müssen wir auf ihre andere Seite.«
Kou-en blickte uns nachdenklich an. Dann fragte er: »Und was sucht ihr jenseits der Berge? Und welches Verdienst liegt darin, die Wahrheit vor einem alten Mann zu verbergen? Denn solches Verbergen der Wahrheit ist von der Lüge nur durch die Breite eines Gerstenkorns getrennt. Sagt mir zumindest, was ihr vorhabt, damit meine Gebete euch begleiten können.«
»Heiliger Abt«, sagte ich, »vor einiger Zeit hast du vor uns in der Bibliothek ein Geständnis abgelegt.«
»Oh! Erinnere mich nicht daran«, rief er und hob abwehrend beide Hände. »Warum willst du mich quälen?«
»Das liegt mir ferne, lieber Freund«, antwortete ich. »Aber der Zufall will es, daß deine Geschichte auch die unsere ist, und ich glaube, daß wir dieselbe Priesterin kennengelernt haben.«
»Sprich weiter!« sagte er, plötzlich sehr interessiert.
Ich berichtete ihm in großen Zügen von unseren Erlebnissen. Ich sprach über eine Stunde lang, und er saß uns schweigend gegenüber und wiegte seinen Kopf hin und her wie eine alte Schildkröte. Schließlich kam ich zum Ende.
»Jetzt«, setzte ich hinzu, »lasse das Licht deiner Weisheit unser Dunkel erhellen. Findest du unsere Geschichte nicht wunderbar, oder hältst du uns am Ende für Lügner?«
»Brüder des großen Klosters, das die Welt genannt wird«, antwortete Kou-en mit seinem üblichen Kichern, »warum sollte ich euch für Lügner halten, da ich doch vom ersten Augenblick an gesehen habe, daß ihr Männer seid, denen man vertrauen kann? Und warum sollte ich eure Geschichte für ein Wunder halten? Ihr seid nur zufällig über den äußersten Rand einer Wahrheit gestolpert, mit der wir seit vielen, vielen Jahren vertraut sind.
Weil diese Frau euch in einer Vision unser Kloster gezeigt und euch zu einer Stelle hinter den Fernen Bergen geführt hat, wo sie verschwunden ist, hofft ihr sie, die ihr sterben saht, dort in einer Reinkarnation wiederzufinden. Warum nicht? Es ist nicht unmöglich für solche, die die Wahrheit kennen, obwohl die lange Dauer ihres letzten Lebens seltsam ist, und gegen jede Erfahrung. Zweifellos werdet ihr sie dort finden, so wie ihr es erwartet, und zweifellos wird ihr Khama , ihre Identität, dieselbe sein, wie die eines ihrer früheren Leben, die mich einst zur Sünde verführt hat.
Doch in einem dürft ihr euch nicht irren: sie ist nicht unsterblich. Sie wird nur von ihrem Stolz, von ihrer eigenen Größe, wenn ihr so wollt, auf ihrem Weg zum Nirwana aufgehalten. Doch dieser Stolz wird gebrochen werden, so wie er schon einmal gebrochen wurde; ihre majestätische Stirn wird mit dem Staub der Vergänglichkeit und des Todes
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