Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
gehabt. Hansen war kein Feigling; eigentlich hatte er das Gefühl der Angst nur sehr selten kennengelernt und niemals in dieser Ausprägung. Aber natürlich gab es auch in seinem Leben etwas, das er fürchtete, vor dem er mehr Angst hatte als vor allem anderen - wie bei jedem Menschen. Bei Hansen war es die Angst, wahnsinnig zu werden.
    Sie war nicht unbegründet. Er selbst hatte niemals an seiner geistigen Gesundheit zweifeln müssen, aber er hatte einen Bruder gehabt - er war vier Jahre älter gewesen als er und im vergangenen Jahr (endlich) gestorben -, der geistig zurückgeblieben war. Hansen war zusammen mit einem Bruder aufgewachsen, der stets größer und sehr viel kräftiger als er gewesen war, für eine Weile älter, für eine kurze Weile ebenso alt wie er und für lange, qualvolle Jahre jünger; ein fünfjähriges Kind im Körper eines Mannes, das niemals richtig gelernt hatte zu denken, sich zu artikulieren und sich zu bewegen, und ein durch und durch böses Kind noch dazu. Hansen hatte notgedrungen viel über geistige Behinderungen gelernt, und ihm war nicht verborgen geblieben, daß die meisten Schwachsinnigen erstaunlich friedfertig waren; wenigstens die, die man frei herumlaufen ließ. Sein Bruder nicht. Er war nicht direkt gefährlich; nicht so, daß es einen Grund gegeben hätte, ihn einzusperren oder unter irgendeine besondere Aufsicht zu stellen, aber er machte Hansen und seiner ganzen Familie das Leben zur Hölle. Die vierundzwanzig Jahre, die er alt geworden war, hatten das Leben seiner Eltern zerstört und das seines jüngeren Bruders zu einer Qual gemacht. Als er schließlich gestorben war, hatte die ganze Familie aufgeatmet - und in Hansen war die tiefverwurzelte, unauslöschliche Angst zurückgeblieben, eines Tages genauso zu werden.
    Vielleicht war es mehr als bloße Furcht gewesen. Vielleicht eine Ahnung, vielleicht hatte er instinktiv gespürt, daß das g leiche, grausame Etwas, das den Geist seines Bruders zerstört hatte, auch schon in ihm war: ein unsichtbares Krebsgeschwür, das lautlos und im verborgenen wucherte und auf den Moment wartete, auszubrechen.
    War es jetzt soweit? War das der Grund, weshalb er hier war? Weshalb dieses Krankenhaus keinem Krankenhaus ähnelte, das er je gesehen hatte, weil es kein Kranken-, sondern ein Irrenhaus war?
    Hansen spürte, daß er dabei war, sich selbst in eine Furcht hineinzusteigern, der er vielleicht nicht mehr würde Herr werden können, und zwang sich mit einer gewaltigen Anstrengung, den Gedankengang abzubrechen. Er nahm die Hände herunter, hob den Kopf und öffnete mit einem Ruck die Augen. Wie er erwartet hatte, wurde ihm schwindelig, aber nicht so schlimm, wie er gefürchtet hatte. Für einen Moment schwankte das kleine, fensterlose Zimmer vor seinen Augen auf und ab, aber er brachte den Effekt mit einer be w ußten Anstrengung zum Erliegen. Er wußte nicht, wo er war, aber eines konnte er mit großer Sicherheit sagen: Dies war keine Irrenanstalt. Die berühmte Gummizelle – deren Wände übrigens in den seltensten Fällen tatsächlich aus Gummi bestanden - sah anders aus. Sie hatte zum Beispiel keine Tresortür, und es gab auch kein Videoauge in der Wand, das jede Bewegung ihres Insassen mißtrauisch überwachte. Wo also war er?
    Vielleicht lag die Antwort auf diese Fragen in den Ereignissen der vergangenen Nacht. Hansen hatte immer noch Schwierigkeiten, sich zu erinnern, aber nun versuchte er das Problem mit Logik anzugehen. Eine der ersten Lektionen, die er während seiner Ausbildung zum Polizeibeamten gelernt hatte, beinhaltete, daß es zwar richtig war, ein Problem in seiner Gesamtheit zu betrachten, der genau entgegengesetzte Weg aber ebenso zum Erfolg führen konnte: den Blick auf die Details zu lenken und jedes einzelne sorgsam zu prüfen. Er war mit Bremer auf Streife gewesen, und ihre Schicht war schon beinahe vorüber. Er erinnerte sich, sehr müde gewesen zu sein und alles andere als begeistert, als der Einsatzbefehl über Funk kam. Es ging um einen...
    An diesem Punkt setzten seine Erinnerungen aus. Er... glaubte daß es um einen Selbstmörder gegangen war, war aber nicht sicher. Irgend etwas war danach geschehen. In seinem Kopf waren ein paar zusammenhanglose Bilder: ein Hochhaus, Menschen, die zusammengelaufen waren und die Köpfe in den Nacken legten, eine winzige weiße Gestalt, die mit weit ausgebreiteten Armen wie ein bleicher Vogel ohne Schwingen hoch durch die Luft flog, dann ein Schrei und ein dumpfer Aufprall;

Weitere Kostenlose Bücher