AZRAEL
Zorn.
»Bitte, Herr Doktor«, fuhr er in unhörbar schärferem, aber auch entschlossenem Tonfall fort, »ich möchte jetzt wissen, was überhaupt passiert ist.«
»Sie erinnern sich nicht?« fragte Artner.
»Nein«, erwiderte Hansen. »Dann würde ich kaum fragen, oder?«
Artn er seufzte und schien einen Moment intensiv nachzu-
denken, wie er antworten sollte. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Ich denke, wir sollten uns wirklich unterhalten.«
»Das glaube ich auch«, antwortete Hansen, noch immer im gleichen, hörbar aggressiven Ton. »Es sei denn, Sie legen Wert darauf, daß ich jetzt aufstehe und hier herausspaziere.« Er deutete auf die Tür.
Artn er machte sich nicht einmal die Mühe, seiner Geste zu folgen. Er sah ihn nur an. »Also gut«, sagte er. »Reden wir. Aber nicht über Sie.«
»Worüber sonst?«
»Oh, da fallen mir auf Anhieb eine Menge interessanter Themen ein«, sagte Artner. Etwas in seinem Lächeln verän d erte sich. Hansen hätte nicht sagen können, was, aber was immer es auch war - es beunruhigte ihn.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beis piel Ihr Bruder«, antwortete Artn er.
Hansen erstarrte. Sein Bruder? Was um alles in der Welt -
»Er war schwachsinnig, nicht wahr? Ich meine: total verrückt, zurückgeblieben, ein Idiot.«
»Was hat das ... mit mir zu tun?« fragte Hansen stockend. Seine Hände zitterten plötzlich. Er sah an sich herab und stellte fest, daß sie nicht mehr bluteten. Das konnten sie auch nicht. Die winzigen sichelförmigen Wunden, die seine Fingernägel vorhin in seine Haut gegraben hatten, waren nicht mehr da.
»Nichts«, antwortete Artner. »Ich dachte nur, es wäre ein interessantes Thema. Eines, über das Sie gerne reden würden.«
»Wie... wie kommen Sie darauf?« murmelte Hansen. Jede Schärfe und jede Sicherheit waren aus seiner Stimme verschwunden. Sie zitterte jetzt ebenso heftig wie seine Hände, und er spürte, wie sich hinter seiner Stirn etwas Dunkles, Großes, Körperloses zu drehen begann.
»Stimmt das etwa nicht?« wollte Armer wissen, »Sie denken doch oft an Ihren Bruder zurück, nicht? Wie hieß er dochgleich? Gerd?«
»Fred«, antwortete Hansen.
»Fred, so.« Artner nickte ein paarmal. »Ein passender Name für einen Schwachsinnigen. Obwohl Gerd eigentlich auch paßt - aber das ist Ihr Vorname, nicht wahr?«
Hansen starrte ihn an. Er antwortete nicht mehr. Er hätte es gar nicht gekonnt, denn seine Kehle war zugeschnürt. Sein Herz schlug ganz langsam, aber sehr schwer.
»Aber keine Angst, Gerd«, fuhr Artner fort. »Ich bin nicht gekommen, um Ihnen schonend beizubringen, daß Sie verrückt geworden sind. Das sind Sie nicht.« Er lachte. »Jedenfalls nicht verrückter als die meisten dort draußen, die sich für normal halten.«
»Was... was soll das?« krächzte Hansen. »Ich verstehe nicht, was...«
»Na ja, das können Sie vermutlich auch nicht«, unterbrach ihn Artner. »Schließlich bin ich ja hier, um Ihnen alles zu erklären. Das ist meine Aufgabe, wissen Sie? Erklären und beruhigen - auch wenn es manchmal gar nichts zu erklären gibt und schon gar nichts zu beruhigen. Ich meine, sehen Sie mich an, ich bin der Leiter dieser Klinik. Das alles hier gehört mir. Zwanzig Ärzte, an die hundert Pfleger und Schwestern und Technik im Wert von etlichen zig Millionen - und was habe ich davon? Nichts.«
»Bitte, Dr. Artner«, sagte Hansen mit letzter Kraft. »Was immer Sie mir sagen wollen, sagen Sie es. Erklären Sie mir, was mit mir geschieht.«
»Aber das versuche ich ja gerade«, antwortete Artner in einem Ton resignierender Geduld. »Es hat überhaupt keinen Sinn, sich -gegen das Schicksal aufzulehnen, wissen Sie? Früher habe ich das einmal geglaubt, aber es stimmt nicht. Wir können tun, was wir wollen, am Ende ist es stärker.« Er zog einen Schmollmund. »Schauen Sie mich an! Dieser ganze Laden hier hört auf mein Kommando, und was habe ich davon? Ich bin tot!«
Hansen riß ungläubig die Augen auf. »Wie?«
»Ja, ja«, sagte Artner. »Ich bin tot. Sehen Sie!« Er griff in die rechte Tasche seines Kittels, zog ein Skalpell heraus und führte es mit einer langsamen, sehr präzisen Bewegung über seine linke Wange. Das Fleisch klaffte auf und fiel herunter wie ein Stück losgerissener Tapete, und darunter kamen der blanke Knochen und rote Muskel- und Sehnenstränge zum Vorschein. Als er weitersprach, konnte Hansen sehen, wie sich die Zunge in seinem Mu nd bewegte wie ein kleiner flei schiger Wurm, der vergebens gegen die
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