AZRAEL
beobachtet wurde. Er versuchte, das Verstreichen der Zeit zu schätzen, dann begann er zu zählen: in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus, der sich am Takt seiner Herzschläge orientierte. Zuerst bis hundert, dann bis fünfhundert.
Niemand kam.
Dafür kehrte die Furcht zurück. Er hatte plötzlich einen absurden, aber gräßlichen Gedanken: Was, wenn er all das nicht wirklich erlebte? Was, wenn er nur glaubte es zu erleben? Wenn er niemals in dieses seltsame Zimmer gekommen war, sondern noch immer im Krankenhaus lag, angeschlossen an eine Unzahl durchsichtiger Schläuche und bunter Drähte, in denen er sich verfangen hatte wie in dem verchromten Netz einer riesigen stählernen Spinne, deren Opfer er geworden war - und die es nicht auf sein Heisch, sondern auf seinen Geist abgesehen hatte? Was, wenn er -
Es hatte schon einmal geholfen, und er versuchte auch jetzt, den Gedanken mit einer bewußten Anstrengung abzubrechen. Die Angst blieb. Die Stimme der Logik war zu dünn und hatte nicht die richtigen Argumente, das böse Flüstern in seinem Kopf zum Verstummen zu bringen. Es wurde etwas leiser, aber es war noch da und gewann mit jedem Moment an Eindringlichkeit und Überzeugungskraft. Stöhnend schloß Hansen die Augen und preßte die Lider so fest zusammen, daß weiße Lichtblitze vor seinen Augen tanzten. Er schloß die Hände, ballte sie zu Fäusten und grub ganz bewußt die Fingernägel tief in sein eigenes Fleisch. Der Schmerz war wie ein dünner, heißer Draht, der in seine Hände schnitt, aber er lockerte seinen Griff nicht, sondern wandte im Gegenteil noch mehr Kraft auf. Schmerz - körperlicher Schmerz - war etwas Reales, ein Teil der Welt, in der er lebte und bleiben wollte, und er war nicht sein Feind, sondern die Rettungsleine, nach der er mit verzweifelter Kraft griff, um sich daran festzuklammern und nicht vollends hineingerissen zu werden in den Strudel aus Angst und Wahnsinn, auf den er immer schneller und schneller zutrieb.
Es half. Die Furcht verebbte ganz langsam. Der Sog wurde schwächer, er spürte, wie warmes Blut über seine Hände lief und zu Boden tropfte, aber es war ein köstliches Gefühl, ein Gefühl, das ihm bewies, daß er noch lebte und sich noch immer in einer Welt realer Dinge befand. Nicht in jenem unsichtbaren Gefängnis aus Infantilität und Irrsinn, das den Geist seines Bruders verschlungen hatte.
Als er die Augen öffnete, war er nicht mehr allein.
Er hatte nicht gehört, daß die Tür aufgegangen war, aber sie mußte es wohl, denn vor ihm stand ein sehr großer, schlanker Mann mit grauem Haar, einem asketischen Gesicht und der hier allgemein üblichen Kleidung: weiße Hosen, weißes Hemd und darüber ein weißer Kittel. Aber er war kein Pfleger, sondern Arzt. Hansen hätte das kleine Namensschildchen an seinem Kittel gar nicht sehen müssen, um das zu wissen. Er war in seinem Leben genug Ärzten begegnet, um sie sofort zu erkennen.
»Gott sei Dank«, murmelte er erleichtert. »Endlich. Ich dachte schon, es kommt überhaupt niemand mehr.«
Der Grauhaarige lächelte. Auch dieses Lächeln kannte Hansen zur Genüge. Er hatte es so oft gesehen, wenn er se i nen Bruder und seine Mutter zum Arzt begleitete – ein Lächeln, das nichts bedeutete und allenfalls die eigene Unsicherheit verbarg.
»Wie ich sehe, geht es Ihnen endlich besser«, sagte der Arzt. »Wie fühlen Sie sich?«
»Nicht besonders gut«, gestand Hansen. »Mir ist schwindelig, und ich fühle mich sehr schwach. Was ist passiert? Wo bin ich?«
»Im Krankenhaus«, erwiderte der andere. »Aber das wissen Sie sicher selbst. Sie sind in guten Händen, keine Sorge, Ihnen wird nichts geschehen.«
Allein der Umstand, daß er diese Versicherung für nötig hielt, beunruhigte Hansen schon wieder. »Was ist passiert?« fragte er. »Hatte ich einen Unfall?«
Der Arzt hob abwehrend die Hand. »Ich bin hier, um Ihnen alles zu erklären«, sagte er. »Ich bin Dr. Artner, der Leiter dieser Klinik, und ich nehme an, Sie haben tausend Fragen.«
»Vor allem möchte ich mit meiner Frau sprechen«, antwortete Hans en. Er kannte auch die Art Artner s zu reden zur Genüge. So wie sein Lächeln bedeutete sie nichts. Er würde antworten, aber es würden wahrscheinlich Antworten sein, die keine waren.
»Ihr Frau wurde benachrichtigt«, sagte Artner, »machen Sie sich keine Sorgen. Sie weiß, daß es Ihnen gutgeht, wahr s cheinlich besser, als Sie selbst.«
»Bestimmt sogar«, sagte Hansen und bekam einen Begleiter:
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