AZRAEL
Stäbe eines Elfenbeinkäfigs anrannte.
»Hoppla«, sagte Artner. »Das war vielleicht etwas übertrieben. Aber so ist das: Man wird leicht unachtsam, wenn man keine Schmerzen mehr fürchten muß.« Er entledigte sich des Skalpells, indem er es sich wuchtig in den linken Unterarm stieß, griff mit der freigewordenen Hand nach seinem Gesicht und klappte den Fleischlappen, der seine Wange gewesen war, wieder nach oben.
»Haben Sie Angst vor Schmerzen, Gerd?« fragte er.
Hansen schrie. Voller Panik wich er vor Artner zurück, stürzte nach hinten und begann rücklings über das Bett vor ihm davonzukriechen.
»Ich will Ihn en keine Angst machen«, fuhr Artn er im Plauderton fort. »Ich frage nur, weil Sie wahrscheinlich eine gewaltige Menge Schmerzen ertragen werden müssen, dort, wo Sie hingehen. Und für ziemlich lange, fürchte ich.« Er lachte leise. »Oh ja, sehr lange. Wie lang ist die Ewigkeit?«
Hansen kreischte weiter. Der Schrei wurde von den gepolsterten Wänden zurückgeworfen und hallte schmerzhaft laut in seinen Ohren, und in ihm erwiderte eine lautlose Stimme den Schrei und fegte auch noch den letzten Rest von Beherrschung davon. Hinter seiner Stirn begann sich ein Druck aufzubauen, der binnen Sekunden die Grenzen des Erträglichen erreichte und überstieg und immer noch weiter und weiter wuchs, bis er das Gefühl hatte, explodieren zu müssen. Seine Furcht erreichte eine Intensität, die wirkliche körperliche Schmerzen freisetzte, aber diesmal war dieser Schmerz kein Freund, sondern ein Verbündeter der Panik, der mit scharfen Krallen an der immer dünner werdenden Barriere riß, die seinen Verstand noch von den Abgründen des Wahnsinns trennte. Und Armer kam näher. Er hatte das Bett erreicht und ging einfach hindurch - nicht wie ein Geist oder ein Trugbild, das einfach durch feste Materie hindurchglitt, sondern mit
langsameren, mühevollen Schritten, wie ein Mann, der in knietiefem zähem Schlamm watete.
»Ich habe eine Überraschung für dich, Gerd«, sagte er. »Aber ich fü rchte, sie wird dir nicht gefallen.«
Seine Stimme. Etwas stimmte nicht mit seiner Stimme. Es war plötzlich nicht mehr die des Arztes. Das hieß – nicht eigentlich seine Stimme hatte sich verändert, sondern vielmehr seine Art, zu reden. Sie war... schleppender geworden. Monotoner. Kindlicher?
Die Tür zu Hansens Zelle wurde mit einem Knall aufgerissen, und zwei muskulöse Männer in weißen Pflegeruniformen stürmten herein, dicht gefolgt von einem dritten, etwas älteren Mann, dem man, ganz wie Artner zuvor, den Arzt an s ah. Offenbar hatte die Videokamera doch ihren Dienst getan, und sie waren gekommen, um ihn zu retten. Sie würden Artner überwältigen und -
Sie ignorierten Artner.
Hansen schrie weiter aus Leibeskräften und schlug und trat mit Armen und Beinen um sich, aber er hatte keine Chance gegen die beiden Pfleger. Mit routinierten Bewegungen ergriffen sie ihn und rangen seinen Widerstand scheinbar mühelos nieder. Hansen schrie weiter, bäumte sich mit verzweifelter Kraft auf und brüllte, und Artner stand die ganze Zeit da, bis zu den Knien in seinem Bett versunken und lächelnd, und irgend etwas geschah mit seinem Gesicht. Es veränderte sich, ohne sich wirklich zu verändern. Etwas Bekanntes war mit einem Male darin, etwas auf eine furchtbare Weise Vertrautes, das nicht sein konnte, das einfach nicht sein durfte, denn es war unmöglich, absolut und vollkommen unmöglich.
»Beruhigen Sie sich, Hansen!« sagte der neu hinzugekommene Arzt. Er stand direkt hinter Artner auf der anderen Seite des Bettes, so daß Hansen sein Gesicht nur zum Teil sehen konnte. Er sah erschrocken aus und sehr besorgt - aber er sah Artner nicht. Sein Blick war fest auf Hansen gerichtet, obwohl er ihn doch sehen mußte. Er stand unmittelbar vor ihm!
»Ja, ja, du solltest auf meinen armen lebenden Kollegen hören«, sagte Armer fröhlich. »Beruhige dich. Es wäre wirklich klüger.« Er lachte meckernd. »Um dich aufzuregen, hast du noch viel Zeit. Viel, viel, viel Zeit.«
Etwas in Hansen zerbrach. Der Druck hinter seiner Stirn überstieg die Grenzen des Vorstellbaren, und es war wirklich wie eine kleine Explosion - er konnte fühlen, wie irgendein Widerstand in ihm nachgab, die Mauern einstürzten, die seinen Verstand bisher trotz all em noch irgendwie geschützt hat ten. Er heulte auf, mobilisierte noch einmal alle Kräfte und schaffte es dann, seinen rechten Arm loszureißen. Der Pfleger auf der entsprechenden Seite des
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