AZRAEL
gestattete sich nicht, sie zu glauben – selbst dann hätten sie kein Recht gehabt, ihm das anzutun. Sein Vater hatte behauptet, es nur seinetwegen getan zu haben, um seiner und seiner Mutter willen - lächerlich! Sie hatten kein Recht. Niemand hatte das Recht, so etwas zu tun. Sie hatten ihm sechs Jahre seines Lebens gestohlen - mehr noch: im Grunde sein ganzes Leben, denn sie hatten auch die Erinnerung an die Zeit davor fast vollkommen ausgelöscht, und es gab nichts, was das rechtfertigte. Er kam sich benutzt vor: auf die schlimmste vielleicht mögliche Art benutzt und manipuliert.
Und doch war das nicht einmal das Schlimmste. Dies waren die Gedanken und der Schmerz, die an der Oberfläche waren. Darunter wuchs noch etwas anderes heran – etwas noch immer Körperloses und Dunkles, das aus dem Verlies am Grunde seiner Seele gekrochen war und nun heraufwollte. Vielleicht war es nichts anderes als das Wissen, daß sein Vater doch die Wahrheit gesagt hatte. Oder die Angst.
Er hatte verzweifelt versucht, sich zu erinnern. An irgend etwas - Löbach, seine Tochter, die anderen, jene schicksalhafte Nacht, von der sein Vater gesprochen hatte, irgendeine Kleinigkeit, und sei sie noch so nebensächlich, die nicht in das Bild einer ganz normalen, ein wenig langweiligen Jugend paßte, das in seinem Gedächtnis war. Aber da war nichts. Mark verstand mit jeder Minute weniger, wieso es ihm in all den Jahren nicht selbst aufgefallen war, denn jetzt, wo sein Vater und Petri ihn darauf aufmerksam gemacht hatten, begriff er mehr und mehr, wie falsch das war, was er die ganze Zeit für seine Erinnerung gehalten hatte. Und es war nicht einmal eine sehr überzeugende Fälschung. Was in seinem Kopf war, war bloß Requisite: eine bunt angemalte Pappmache-Kulisse, die einer Betrachtung aus großer En t fernung standhalten mochte, aber nicht einmal das für lange Zeit. Dahinter war nichts. Es gab Lücken und dünne Stellen in dieser Kulisse, aber wenn er daran kratzte und die blasse Farbschicht entfernte, kam nur eine allumfassende Schwärze und Leere zum Vorschein. Die Erinnerungen an die Zeit vor seinem zwölften Geburtstag existierten nicht mehr. Petri hatte zwar behauptet, daß sie wiederkehren würden, aber Mark war nicht sicher. Da hätte irgend etwas sein müssen, das Erwachen wollte. Irgend etwas, das er, wenn schon nicht erkannt, so doch gespürt hätte. Doch alles, w as er am Grunde dieser schwarzen Leere fühlte, war das Ungeheuer der Furcht. Es lag dort unten wie ein Ding, das seine Vergangenheit gefressen hatte und nun vielleicht daranging, auch seine Gegenwart zu verschlingen.
Hinter ihm hupte ein Wagen. Mark, der in mäßigem Tempo auf dem Bürgersteig entlangschlenderte und einen guten Meter vom Straßenrand entfernt war, stellte keine Beziehung zwischen sich und diesem Hupen her und ignorierte es zuerst. Aber dann wiederholte es sich und dann noch einmal, und er drehte im Gehen den Kopf und sah sich suchend um. Auf der Straße herrschte nicht viel Verkehr, und so bemerkte er den silbergrauen Mercedes sofort, der im Schrittempo hinter ihm her rollte. Der Fahrer sah in seine Richtung. Mark konnte mit seinem Gesicht im ersten Moment nicht viel anfangen, aber das Hupen hatte ganz eindeutig ihm gegolten, denn erstens war er allein auf dem Gehweg, und zweitens hob der Mann im Mercedes in diesem Moment die Hand und machte eine eindeutige Bewegung.
Einen Moment lang spielte Mark mit dem Gedanken, einfach weiterzugehen. Er kannte so gut wie niemanden hier in Berlin, und allein der kostspielige Wagen, den der andere fuhr, legte den Verdacht nahe, daß es jemand war, den sein Vater geschickt hatte. Hatte er ihn die ganze Zeit beobachtet? Mark beantwortete seine Frage gleich selbst: nein. Dieser Wagen wäre ihm aufgefallen.
Der Fremde hupte zum dritten Mal, und Mark gab sich einen Ruck und trat mit raschen Schritten auf die Fahrbahn hinaus und um den Mercedes herum. Die Gesten des Fahrers waren eindeutig: Mark öffnete die Beifahrertür, ließ sich in den niedrigen Schalensitz fallen und erkannte endlich den Mann hinter dem Steuer.
Ungläubig riß er die Augen auf. »Sie?« Er konnte sich nicht an den Namen erinnern, aber es war eindeutig der Polizeibeamte von heute morgen. Mit seiner grünen Jacke und der weißen Mütze wirkte er in diesem Wagen vollkommen fehl am Platze, und obwohl er lächelte, sah er zugleich nicht so aus, als ob er sich hinter dem teuren Sportlenkrad besonders wohlfühlte.
»Guten Tag, Herr Sillmann«,
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