AZRAEL
tun«, behauptete Sendig. Etwas stimmte nicht mit ihm. In seinen Augen war wieder dieses wilde Flackern, aber es hatte sich verändert. Zu der Furcht war etwas hinzugekommen, das Bremer alarmierte. »Was mit ihm geschehen ist, haben ihm Menschen angetan, und alles, was Menschen tun, kann auch wieder rückgängig gemacht werden, oder?«
Bremers Blicke wurden beschwörend. Hatte Sendig jetzt endgültig den Verstand verloren? Der Junge konnte sich eindeutig an das meiste von dem, was mit ihm geschehen war, nicht erinnern. Von allen Beteiligten wußte er wahrscheinlich das wenigste. Sendig war nahe daran, eine Katastrophe auszulösen.
»Hören Sie, Mark«, fuhr Sendig in erregtem, fast schon hysterischem Ton fort, »ich verspreche Ihnen keine Wunder, aber wir werden tun, was wir können. Aber Sie müssen uns helfen - okay?«
»Und wie?« Mark ballte die Hände zu Fäusten. »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich mir das alles nur einbilde oder nicht. Vielleicht werde ich einfach verrückt.«
»Unsinn«, sagte Sendig. »Sie sind nicht verrückter als ich. Wir müssen herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Ich fürchte allerdings, Ihr Vater wird uns das nicht freiwillig sagen. Aber das kriegen wir schon hin.«
»Und... Beate?« fragte Mark.
Bremers Herz begann zu hämmern. Er hatte diese Frage befürchtet, von dem Moment an, in dem Sendig das Mädchen das erste Mal erwähnt hatte. Vielleicht geschah die Katastrophe, die er vorausgeahnt hatte, jetzt.
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, antwortete Sendig. »Nicht genau. Aber sie ist am Leben, und wir finden sie, das verspreche ich Ihnen. Schließlich ist das unser Job. Und was Ihre Angst angeht, den Verstand zu verlieren, mein lieber Junge, da kann ich Sie beruhigen. Sie haben sich das alles nicht nur eingebildet. Ich kann es Ihnen beweisen.«
Er warf Bremer einen raschen, beinahe beschwörenden Blick zu, dann wandte er sich mit einem gezwungenen Lächeln wieder an Mark. »Der Keller, von dem Sie geträumt haben, Mark - er existiert. Und ich weiß, wo er ist.«
Bremer wußte nicht, wie lange er sich noch beherrschen konnte. Was hatte Sendig vor? Wollte er einfach sehen, wie weit er gehen konnte, o der war er es jetzt, der den Verstand verlor?
»Sie wissen, wo er ist?« fragte Mark erregt. »Wo?«
»Langsam.« Sendig machte eine entsprechende Handbewegung. »Wir bringen Sie hin, das verspreche ich. Aber zuvor verlange ich ein Versprechen von Ihnen. «
»Welches?«
»Schließen wir ein Bündnis«, sagte Sendig. »Sie und ich – und Bremer hier - zusammen. Wir finden heraus, was passiert ist. Und wir finden heraus, wie wir Ihnen helfen können.«
Mark sah ihn lange und ernst an, und Bremer spürte, daß es mehr als nur ein Blick war. Etwas geschah in ihm, etwas Gewaltiges und Endgültiges, und als er schließlich nickte, da war es mehr als eine bloße Bewegung. Mit dieser kleinen Ge ste schlo ssen Sendig und er einen Pakt für die Ewigkeit. Und Bremer hatte das unangenehme Gefühl, daß er Teil dieses Paktes war, ob er wollte oder nicht.
Er ertrug es nicht mehr. Wäre er noch eine Sekunde länger geblieben, dann hätte er Sendig angeschrien oder ihn niedergeschlagen, und er hätte Mark gesagt, mit wem er es wirklich zu tun hatte - nämlich mit einem Mann, der wahrscheinlich gar nicht wußte, was das Wort Gewissen bedeutete, und der um sein Leben redete. Mit einem Ruck stand er auf, eilte zur Tür und stieß sie mit solcher Wucht auf, daß sie zurückfederte und ihn fast getroffen hätte.
Erst als er sich einige Schritte vom Wagen entfernt hatte, kam ihm zu Bewußtsein, wie leichtsinnig er sich verhielt - seine Chancen hätten gerade nicht schlecht gestanden, unversehens in ein Dutzend Gewehrläufe zu blicken. Sie standen seit einer guten Viertelstunde hier. Die rechtmäßigen Besitzer des Krankenwagens hatten vermutlich längst die Polizei alarmiert. Daß sie es mit einer mit herkömmlicher Logik nicht zu erklärenden Bedrohung zu tun hatten, verleitete ihn offenbar dazu, ihre realen Verfolger zu vergessen.
Sendig kam hinter ihm aus dem Wagen und zündete sich die letzte Zigarette aus seiner Packung an. Seine Hände zitterten so heftig, daß er sie kaum halten konnte. Er wich Bremers direktem Blick aus, kam aber langsam näher.
»Sind Sie verrückt geworden?« fuhr Bremer ihn an, ehe er auch nur Gelegenheit fand, ein einziges Wort zu sagen.
»Wieso?«
»Wieso?« keuchte Bremer. Er gestikulierte heftig zu der offenstehenden Tür des Wagens. »Was glauben
Weitere Kostenlose Bücher