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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schnurgerade fast durch das gesamte Gebäude hindurch und endete vor einer wuchtigen, mit Schnitzereien verzierten Eichentür. Sie klemmte ein wenig, so daß sich Sendig zweimal mit der Schulter dagegen werfen mußte, um sie aufzubekommen, und die kurze Verzögerung gab Bremers Phantasie Gelegenheit zu einer zweiten, witzigen Vision: Die Tür sah massiv genug aus, um den Beschüß einer Panzerfaust standzuhalten. Wäre sie abgeschlossen gewesen, dann wäre ihre Flucht nach allem, was sie geschafft hatten, hier zu Ende - ein grotesker, aber irgendwie beinahe auch schon wieder passender Ausgang dieser aberwitzigen Geschichte.
    Die Tür war nicht verschlossen. Als Sendig das zweite Mal mit der Schulter dagegen stieß, ging sie so plötzlich auf, daß er, vom übriggebliebenen Schwung seiner eigenen Bewegung mitgerissen, hindurchstolperte und um ein Haar gestürzt wäre.
    Bremer folgte ihm hastig, aber er nahm sich trotzdem die Zeit, die Tür hinter sich wieder ins Schloß zu schieben. Er sah nicht ein, daß er ihren Verfolgern die Zeit schenken sollte, die sie durch die Tür verloren hatten.
    Daß sie verfolgt wurden, daran bestand mittlerweile kein Zweifel mehr - und zwar ganz bestimmt nicht von seinen ehemaligen Kollegen oder einer Meute Fabrikarbeiter, die auf
    eine Schlägerei aus waren. Mark hatte seine unheimlichen Worte nicht wiederholt, aber Bremer spürte es einfach. Irgend jemand - irgend ETWAS - verfolgte sie. Und es kam näher. Rasend schnell.
    »Bremer, wo bleiben Sie?« schrie Sendig. Er hatte sich wieder gefangen und war bereits weitergelaufen. Der Korridor setzte sich vor ihnen nur noch ein paar Meter weit fort und ging dann in eine breite, mit einem grünen Läufer belegte Holztreppe über, die in eine von Neonlicht erhellte Tiefe führte. »Beeilen Sie sich, verdammt noch mal!«
    Bremer rückte Marks Gewicht auf seiner Schulter hastig zurecht und lief los. Mark stöhnte. Vermutlich bereitete ihm die Bewegung unerträgliche Schmerzen, denn er versuchte schwach, sich loszureißen, aber Bremer nahm nun keine Rücksicht mehr. Die zweite Injektion, die Sendig ihm gegeben hatte, hatte noch weniger lange vorgehalten als die erste. Die Kräfte des Jungen waren so rasch wieder geschwunden, wie er sich erholt hatte; Bremer schleifte ihn mehr neben sich her, als er ihn stützte. Über Bremers Schulter lief klebrige Wärme. Die Wunde in Marks Arm hatte wieder zu bluten begonnen. Seine Chancen, mit einem Toten im Arm unten anzukommen, standen wirklich nicht schlecht. Er erreichte die Treppe und warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück, ehe er die Stufen hinuntertastete. Die Tür war noch geschlossen, aber was immer ihnen folgte, es war jetzt nahe. Und es war kein Mensch. Vielleicht nicht einmal etwas Lebendiges. Vielleicht hatte sich Sendig getäuscht, als er vermutete, daß Mark nur wirklich gefährlich war, wenn er schlief; vielleicht reichte der fast komatöse Zustand des Jungen auch aus, um die unheimlichen Kräfte seines Geistes schon jetzt zu entfesseln, aber vielleicht war es auch ganz anders, als sie beide geglaubt hatten. Er würde es herausfinden. Sehr bald.
    Sie stolperten die Treppe hinab und fanden sich unversehens in einer vollkommen veränderten Umgebung wieder. Hatten die Architekten oben wenigstens noch versucht, das mbiente des alten Gutshofes beizubehalten, der dieses Gebäude früher einmal gewesen war, herrschte hier unten nichts als kalte Funktionalität. An der Decke leuchteten Neonröhren, und vor ihnen lag ein langer, weißgestrichener Gang, von dem ein halbes Dutzend Glastüren abzweigten. Sämtliche Räume dahinter waren taghell erleuchtet. Es waren Laboratorien voller unverständlicher Gerätschaften, Chrom und blinkender Monitore.
    Es war beinahe zuviel. Bisher hatte Bremer sich erfolgreich dagegen gewehrt, sich zu erinnern, aber dieser Anblick weckte die Geister der Vergangenheit. Er war schon einmal hiergewesen, vor sechs Jahren, aber es hätten auch sechzig Jahre sein können, und er hätte sich genauso gut erinnert. Er würde dieses Gebäude nie vergessen, ganz egal, wieviel Zeit auch verging. Außerdem schien sich absolut nichts verändert zu haben. Damals wie heute kam ihm dieser unter der Erde gelegene Gang wie die Kulisse eines Science-fiction-Filmes vor, in der die Zeit mindestens fünfzig Jahre übersprungen hatte; aber zugleich schien sie auch stehengeblieben zu sein, wie um auf die verlorenen Jahre zu warten. Damals wie heute gab es nur einzige Tür in diesem

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