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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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war zusammengenommen, nicht einmal so hell wie das der beiden Neonröhren unter der Decke, aber viel wärmer, und die zahllosen brennenden Dochte erfüllten die Luft mit einem sonderbaren, fast berauschenden Aroma. Auf dem niedrigen Holzpodest am anderen Ende des Kellers hatte er ein Kreuz aufgestellt, das er selbst – zugegeben, nicht besonders kunstvoll – aus zwei Latten zusammengebastelt hatte. Auf den ersten Blick wirkte es gleichschenkelig, aber das war eine ganz bewußte Täuschung. Der obere Balken war einen halben Zentimeter länger als der untere, was es zu einem umgedrehten Kruzifix machte. Das war sehr wichtig für das, was Mark vorhatte. Gleichzeitig konnten die anderen es nicht sofort sehen. Er mußte ein bißchen aufpassen, damit sie nicht vorher Verdacht schöpften und ihm den Spaß verdarben. Ja – alles war bereit. Jetzt fehlten nur noch die anderen.
    Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, hörte er Schritte draußen im Vorraum, und einen Augenblick später betrat Claudia den Keller. Sie blieb überrascht stehen, als sie sah, welche Vorbereitungen er getroffen hatte, und blickte sich blinzelnd um.
    » He, was ist… «
    » Hübsch, nicht? « fiel ihr Mark grinsend ins Wort. » War auch eine Menge Arbeit. «
    » Hübsch? « Claudia runzelte die Stirn, als suche sie nach einem anderen, zutreffenderen Ausdruck für das, was sie sah. » Also ich weiß nicht… Was soll denn das? Ist das etwa der Grund, aus dem wir so dringend hierherkommen mußten? «
    » Auch « , bestätigte Mark. Er mußte sich plötzlich beherrschen um ihr nicht sofort alles zu erzählen, aber das hätte ihm die Freude verdorben. Später würde sie von dem, was er ihnen zeigte, zweifellos genauso begeistert sein wie die anderen, aber zuerst wollte er ihr noch einen kleinen Schrecken einjagen. Ihr vor allem. Claudia und er waren jetzt seit einem Jahr zusammen in Löbachs Gruppe. Sie kannten sich, so lange er denken konnte -, aber wirklich eng befreundet waren sie eigentlich erst, seit sie ihr gemeinsames Talent entdeckt hatten. Seither waren sie allerdings unzertrennlich, auch über die monatlichen Treffen mit Claudias Vater und den anderen hinaus.
    Aber das änderte nichts daran, daß sie trotzdem auf eine Art Konkurrenten geblieben waren, jetzt vielleicht mehr denn je. Claudia und er waren unbestritten die beiden talentiertesten Schüler, die die Gruppe je gehabt hatte. Selbst Marcus, der der älteste war und die größte Erfahrung um Umgang mit AZRAEL hatte, gab neidlos zu, daß ihre Visionen die besten waren, und zwar mit Abstand. Aber Claudia und er teilten sich diese Führerrolle; und auch wenn keiner von ihnen das laut zugegeben hätte – es paßte weder ihm noch ihr.
    Nun, dachte Mark, nach heute Abend würde Claudia es schwer haben. Das, was er den anderen zu bieten hatte, mußte sie erst einmal besser machen.
    » Was ist so komisch? « fragte Claudia. Offenbar hatte Mark sich nicht gut genug in der Gewalt, sich seine Vorfreude nicht anmerken zu lassen.
    » Nichts « , sagte er. Fast hastig fügte er hinzu: » Hast du es? «
    Claudia zögerte einen Moment, dann griff sie in die Tasche ihrer knappsitzenden weißen Jeansjacke und zog eine kleine Papiertüte hervor. Mark nahm sie entgegen, schüttete ihren Inhalt auf seine ausgetreckte Hand und zählte die farblosen Kapseln: Es waren zwölf. Nicht viel, aber genug.
    » Mehr war nicht drin « , sagte sie. » Ich habe sowieso kein gutes Gefühl dabei. «
    » Wieso? « fragte Mark.
    Claudia zuckte mit den Schultern. » Ich glaube, mein Vater beginnt Verdacht zu schöpfen. Er hat zwar nichts gesagt, aber so komische Andeutungen gemacht. «
    Mark schwieg dazu. Das war ein Thema, über das sie schon öfter gesprochen hatten, aber Mark hatte im Augenblick keine Lust, die alte Diskussion erneut aufflammen zu lassen. Claudia war ebenfalls nicht begeistert davon, daß sie zusätzlich zu ihren monatlichen Sitzungen, die unter strenger Kontrolle ihres Vaters stattfanden, auch noch manchmal heimlich hier trafen. Er war sogar ziemlich sicher, daß es nur einen einzigen Grund gab, aus dem sie überhaupt kam – nämlich um ihm einen Gefallen zu tun. Und, natürlich, irgendwann einmal den Beweis anzutreten, daß sie doch die bessere war. Während ihrer normalen Sitzungen würde ihr das bestimmt nicht gelingen. Ihr Vater achtete streng darauf, daß sie bei ihren geistigen Ausflügen einen bestimmten Punkt niemals überschritten – was sie natürlich ungehemmt taten, wenn sie

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