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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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verwandelte sich in ein Gespinst aus Milliarden ineinanderlaufender Risse und milchiger Splitter, das einen Augenblick später in sich zusammenfiel, und der gesamte Schreibtisch machte einen Satz auf ihn zu. Bruno wurde die Luft aus den Lungen gepreßt, als die zerschrammte Schreibtischkante seinen Leib dicht oberhalb des Magens traf und sich anschickte, ihn zu halbieren. Gleichzeitig kippte er nach vorne, tauchte mit dem Gesicht in den Regen niederprasselnder Glasscherben ein und spürte, wie irgend etwas sein Bein traf und auf grausame Weise verdrehte. Der Wagen pflügte immer noch auf ihn zu, wie der stählerne Bug eines Eisbrechers, der dem infernalischen Vorspiel ein brutales Ende setzen würde.
    Das War also der Tod, dachte Bruno, während er hilflos dabei zusah, wie ein gezackter Holzsplitter sich seinen Augen näherte. Gleichzeitig wurden seine Rippen immer weiter zusammengequetscht, und -
    und dann war etwas da.
    Etwas Großes, Schwarzes, das sich im Bruchteil einer Sekunde hinter ihm materialisierte und ihn mit unvorstellbarer Kraft ergriff. Hände, stark wie die eines griechischen Gottes und schnell wie ein Blitz, packten ihn und rissen ihn im allerletzten Moment aus den Trümmern der zusammenbrechenden Pförtnerloge heraus. Etwas Riesiges, Dunkles hüllte ihn ein, und er glaubte das Rauschen mächtiger Flügel zu hören, die die Luft teilten, und für einen winzigen Moment war es ihm wirk lich , als flöge er - was natürlich unmöglich war. Dann sah er Feuerschein: ein blendendes, weißes Licht, das ihn einhüllte und für Augenblicke blind machte. Eine Woge furchtbarer Hitze strich kochend über sein Gesicht und seine Hände, grausam genug, ihn aufschreien zu lassen, aber zu schnell, um ihn wirklich zu verletzen. Bruno schrie, krümmte sich und wartete auf den Aufprall, der allem ein Ende setzen würde.
    Er kam nicht. Es gab keinen Aufprall. Statt dessen war es, als würde er von unsichtbaren Händen gehalten und beinahe sanft zu Boden gesetzt. Unter ihm war plötzlich Gras, und durch seine geschlossenen Lider drang noch immer greller Feuerschein. Irgend etwas explodierte mit einem ungeheuren Krachen, und wieder traf ihn eine Hitzewelle, vor der ihn diesmal nichts schützte, so daß er zu Boden geschleudert wurde und hastig die Arme über den Kopf schlug.
    Als er die Augen öffnete, schien die ganze Welt in Flammen zu stehen. Er lag gut zehn Meter von der brennenden Pförtnerloge entfernt im Gras und blutete aus etlichen Dutzend winz i ger Schnitt- und Rißwunden im Gesicht und den Händen, und er hatte starke Schmerzen - aber er lebte. Er konnte sich nicht erklären, wieso: Alles, was links von ihm war, brannte. Die Flammen hatten das Pförtnerhäuschen und den Wagen vollkommen eingehüllt und leckten bereits gierig nach den Ästen eines Baumes, der danebenstand, und die Hitze war selbst hier so gewaltig, daß er keine Luft bekam. Aber er lebte.
    Während sich Bruno auf Hände und Knie erhob und hastig von den Flammen fortzukriechen begann, meldete sich seine Logik, die ihm einzureden versuchte, daß er einfach von der Wucht der Explosion erfaßt und davongeschleudert worden sei, und das war auch die Version, die er später erzählte, als die Polizei eintraf und die Feuerwehr und alle anderen. Aber tief in seinem Innern wußte er, daß das nicht stimmte. Der Wagen war explodiert, nachdem er das Pförtnerhäuschen zermalmt hatte. Hätte ihn die Explosion hierher geschleudert, dann hätten sie allerhöchstens einen verkohlten Leichnam gefunden, dem jeder Knochen im Leib zerbrochen worden war. Etwas hatte ihn gerettet. Es gab Schutzengel. Und er hatte se i nen getroffen.
    50. Kapitel
    D er Keller war hergerichtet wie die Kulisse eines billigen Horrorfilmes. Bremer schätzte, daß von den über fünfhundert Kerzen, die sie damals gezählt hatten, mindestens die Hälfte jetzt wieder brannte. Ihr Geruch vermischte sich mit dem Staub und dem Moder in der Luft zu etwas, das ihm fast den Atem nahm, und der flackernde Lichtschein erweckte Millionen huschender kleiner Schatten im Raum zum Leben.
    Die Erinnerungen hatten ihn mit solcher Wucht getroffen, daß er unmittelbar hinter der Tür stehenblieb und für ein paar Sekunden einfach nicht weitergehen konnte. Alles war wie damals - die Kerzen, die Wärme, das umgedrehte Kreuz auf dem hölzernen Podest. Selbst die Toten schienen wieder dazu sein. Ihre Umrisse waren an den verblichenen, aber noch immer sichtbaren Kreidestrichen auf dem Boden zu erkennen, und was

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