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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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die Leichen anging - sie lagen nicht in den Kreidekonturen, aber sie waren da.
    Es gab auch heute wieder vier Tote in diesem Raum.
    Drei von ihnen lagen in großen, bereits im Eintrocknen begriffenen Blutlachen unweit der Tür auf dem Boden, und ein vierter hockte vornüber gesunken an der gegenüberliegenden Wand. Er blutete nicht, und als Bremer ein zweites Mal hinsah, war er auch nicht mehr siche r, daß er wirklich tot war. Er saß völlig reglos da, und sein Gesicht war schlaff und schneeweiß, aber in seinen offenstehenden Augen war etwas. Allerdings kein Leben, sondern nur Grauen.
    Die drei anderen hingegen waren tot, daran bestand kein Zweifel. Es waren auch keine Kinder, wie damals, sondern erwachsene Männer - zwei von ihnen in einem schwer zu definierenden Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, während der dritte ungefähr in Sendigs Alter sein mußte. Alle drei waren erschossen worden, und das wahrscheinlich erst vor ganz kurzer Zeit. In dem süßlichen Blutgeruch, der von ihren Leichen aufstieg, glaubte er noch Pulverdampf zu identifizieren.
    Ganz allmählich fand er in die Wirklichkeit zurück. Es fiel ihm schwer. Die Mischung aus erinnertem und gegenwärtigem Grauen, die ihn empfangen hatte, war schlimmer als alles andere bisher. Er mußte sich bewußt konzentrieren, um sich zu fragen, wer die drei Toten sein mochten - obwohl er die Antwort eigentlich kannte. Einer von ihnen hielt eine Pistole in der Hand, die er noch sterbend gezogen hatte, und sowohl ihre Gesichter als auch die Art, sich zu kleiden, wiesen gewisse Ähnlichkeiten auf. Sie gehörten zu den Männern in den blauen BMW. Sendigs Dienstausweise. Sie mochten mächtig sein, aber sie waren nicht kugelfest.
    »Sillmann?« Sendigs Stimme riß ihn endgültig wieder in die Wirklichkeit zurück. Er war an ihm vorbeigetreten, aber nur einen einzigen Schritt, ehe er wieder stehengeblieben war. Seine Stimme hatte einen hohlen Klang, den Bremer im ersten Moment auf die Akustik des Kellerraumes schob. Dann wurde ihm klar, daß es pures Entsetzen war, was er darin hörte.
    Außer den vier Toten gab es noch eine weitere Gestalt im Raum. Bremer konnte nur ihren Rücken erkennen, aber er hätte auch ohne Sendigs Worte gewußt, daß es Sillmann war. Irgend etwas ging von diesem Mann aus, das ihn unverwechselbar machte, selbst wenn man sein Gesicht nicht sah.
    Sillmann drehte sich schwerfällig herum. Er brauchte mehrere Sekunden für diese einfache Bewegung, und Bremer hatte den Eindruck, daß sie seine Kräfte fast überstieg. Sein Gesicht war grau, und in seinen Augen glomm eine Furcht, die beinahe so schlimm war wie die des Mannes, der drüben an der Wand hockte. Er trug einen teuren Kaschmirmantel, in dessen rechter Tasche sich vier kleine schwarze Löcher mit verbrannten Rändern befanden. Die linke Hand hatte er in der Manteltasche, in der anderen hielt er ein großformatiges Buch mit dunkelbraunem Ledereinband.
    Es schien ihn Mühe zu kosten, Sendig zu erkennen. Einige Sekunden lang starrte er ihn verständnislos an, dann löste sich sein Blick von ihm, irrte suchend durch den Raum und blieb schließlich auf Marks Gesicht hängen. Irgend etwas geschah hinter seiner Stirn, das konnte Bremer deutlich sehen. Er wußte nicht, was, aber es war nichts Gutes.
    Der Junge stöhnte leise, als hätte er das Wort verstanden und versuchte darauf zu antworten - was Bremer allerdings bezweifelte. Seit sie den Keller betreten hatten, hatte Mark kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben, aber er konnte durch den Stoff seiner Kleidung hindurch spüren, wie schnell sein Puls hämmerte. Trotzdem bewegte er sich jetzt wieder. Er versuchte den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen, hatte aber zu beidem nicht mehr die Kraft.
    Bremer sah zum Eingang zurück. Der schwarze Engel hatte sie nicht verfolgt, aber er wußte, daß er noch irgendwo dort draußen stand und wartete. Vielleicht darauf, daß Mark endgültig das Bewußtsein verlor. Sillmann machte einen schwerfälligen Schritt, und Sendig hob seine Waffe.
    »Bleiben Sie stehen!« sagte er.
    Sillmann gehorchte tatsächlich, aber erst nach einem weiteren Schritt. Er sah nicht einmal in Sendigs Richtung, sondern starrte nur seinen Sohn an. »Was... was ist mit ihm?« fragte er leise. »Was haben Sie mit ihm —«
    »Gar nichts«, unterbrach ihn Sendig. »Das haben Sie ihm ganz allein angetan. Sie sollen stehenbleiben, habe ich gesagt! «
    Sillmann hatte einen weiteren Schritt gemacht und blieb jetzt wieder

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