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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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er ging. Wenn er ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, hätte er sich eingestanden, daß er nicht einmal wußte, wohin er gehen wollte.
    Er sah wieder auf die Uhr. Seit er es das letzte Mal getan hatte, schien keine meßbare Zeit vergangen zu sein, und vor ihm lagen noch viele Stunden, angefüllt mit endlosen Minuten, von denen jede einzelne sich zu einer kleinen Ewigkeit dehnen würde, ehe der Zug Berlin erreichte. Er hatte Angst, wieder einzuschlafen, und so verließ er das Abteil und ging in den Speisewagen, um einen Kaffee zu trinken. Er mochte eigentlich keinen Kaffee, aber er brauchte jetzt etwas, um wach zu bleiben.
    Mark war der einzige Gast des Zugrestaurants. Es war nach zwei, selbst für einen Intercity auf der Nachtroute eine stille Zeit, in der die meisten Fahrgäste schliefen oder dem Morgen entgegendösten. Ein verschlafen aussehender Kellner brachte ihm das bestellte Kännchen Kaffee und bestand darauf, sofort zu kassieren - Parka und Knobelbecher waren offenbar auch nicht dazu angetan, s eine Kreditwürdigkeit zu heben.
    Während Mark die bitter schmeckende, heiße Flüssigkeit in kleinen Schlucken herunterwürgte und darauf wartete, daß die belebende Wirkung einsetzte, versuchte er sich über die Bedeutung seines seltsamen Traumes klar zu werden. Wahrscheinlich war es wirklich nicht mehr als ein Traum gewesen, ohne irgendeine tiefere Bedeutung. Alpträume kamen eben manchmal. Und trotzdem... Etwas an diesen Bildern war so ... realistisch gewesen. Hinter dem Wahnsinn hatte eine Wahrheit gelauert, die hinauswollte und die sich vielleicht nur hinter apokalyptischen Visionen tarnte, weil ihr wirkliches Antlitz noch viel schrecklicher war.
    Er trank einen weiteren Schluck Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und schenkte sich gleichzeitig nach. Die belebende Wirkung, auf die er so hoffte, ließ noch immer auf sich warten, dafür schmeckte das Gebräu jetzt, nachdem es abzukühlen begann, um so scheußlicher. Er fragte sich, warum so viele so versessen auf dieses Zeug waren. Es schmeckte nicht, war ungesund, und die versprochene Wirkung blieb es auch noch schuldig.
    Dafür begann ihn das regelmäßige Schaukeln des Zuges und das Geräusch der rollenden Räder schon wieder einzulullen. Um der Müdigkeit entgegenzuwirken, rutschte er absichtlich in eine unbequemere Stellung und richtete sich auf. Sein Blick glitt haltlos durch den langen, schmalen Raum, aber es gab nichts, was interessant genug gewesen wäre, ihn wachzuhalten. Der Kellner, der ihn bedient harte, lehnte mit verschränkten Armen an der Theke, rauchte und warf dann und wann einen gelangweilten Blick in seine Richtung. Mark hatte bisher angenommen, daß er ihn als willkommene Abwechslung in der toten Zeit zwischen zwei und vier betrachtete, aber augenscheinlich war es genau umgekehrt: Er hatte diese Stunden wohl als zusätzliche Pause fest einkalkuliert und ärgerte sich jetzt, wegen eines Gastes und eines Trinkgeldes von deutlich unter einer Mark wach bleiben zu müssen.
    Marks Blick wanderte weiter über das knappe Dutzend Tische, die den schmalen Gang flankierten. Ihre Gleichförmigkeit hatte etwas Bedrückendes. Er wünschte sich, es wäre eine Stunde später oder er säße wenigstens nicht so allein im Zugrestaurant. Um sich die Zeit zu vertreiben, versuchte er die Plätze an den Tischen ringsum in Gedanken mit Menschen anzufüllen, aber er gab diesen Versuch fast sofort wieder auf: Die Phantome, die er erschuf, hatten eine unangenehme Tendenz, tote Gesichter mit leeren Augenhöhlen zu haben.
    Er sah nach rechts, aber auch die vorübergleitende nächtliche Landschaft bot keine Abwechslung. In einiger Entfernung schwebte eine Autobahn vorbei, in unregelmäßigen Abständen gesprenkelt mit weißen und roten Lichterpaaren, die vollkommen stillzustehen schienen. Er war schrecklich müde, und es war, als hätte sich nun die ganze Welt verschworen, um ihm zu beweisen, daß er sich wirklich am tiefsten Punkt er Nacht befand - einer Stunde, die dem Schlaf gehörte und den Träumen mit ihren Bewohnern.
    Irgend etwas bewegte sich draußen vor dem Fenster. Wahrscheinlich war es nur ein Lichtreflex auf einem Blatt oder eine Stromleitung, an der der Zug vorüberraste, aber er hielt trotzdem aufmerksam danach Ausschau, konnte er auf diese Weise doch der Nacht einige weitere Augenblicke abtrotzen. Und er wurde belohnt. Nach einem Moment sah er es wieder, und diesmal sah es nicht aus wie ein Lichtreflex, sondern seidig und wehend, wie ein weißes Kleid,

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