AZRAEL
das sich im Wind bewegte und dabei nicht nur mit dem rasenden Tempo des Zuges mithielt, der mit annähernd zweihundert Stundenkilometern durch die Nacht schoß, sondern im Gegenteil allmählich näher zu kommen begann. Hinter ihm und rechts und links von ihm glommen plötzlich zahllose winzige Funken in der Dunkelheit auf. Hunderte von ruhig brennenden gelben Kerzen, die ovale Höfe von mildem Licht um sich verbreiteten.
Es war ein Kleid. Die Kerzen waren real und die Schatten davor die eines Dutzends im Kreis sitzender Gestalten, die sich an den Händen ergriffen hatten und im Takt einer unhörbaren Musik wiegten. Mark prallte entsetzt zurück und stieß gegen seine Tasse. Sie fiel um und tränkte die Tischdecke mit dem Rest Kaffee, der noch darin gewesen war, aber das registrierte er ebenso wenig wie das Stirnrunzeln des verärgerten Kellners. Sein Blick irrte immer unsteter über die leeren Tische auf der anderen Seite des Ganges. Er war noch immer der einzige Gast. Außer ihm und dem Ober war niemand hier, und trotzdem sah er jetzt ganz deutlich das Spiegelbild von fünf, sechs, sieben Personen in der schwarzen Scheibe. Ein Spiegelbild ohne Original, das nicht sein konnte und trotzdem immer realer wurde, bis die Wirklichkeit verblaßte und der Traum ihre Stelle einnahm. Die Fensterscheibe war jetzt kein Spiegel mehr, sondern ein Tor in eine andere, verbotene Welt, deren Abgesandte sich auf dem Weg zu ihm befanden.
»Na, was ist denn da los? Haben wir Probleme?«
Wenn dies ein Traum war, wie konnte er dann die Stimme des Kellners hören? Aber er konnte nicht darauf reagieren.
Gelähmt vor Schrecken, starrte er die Gestalt in dem weißen Kleid an, die Gestalt ohne Gesicht, die den Kreis betreten hatte und langsam näher kam. Ihre Füße berührten den Boden nicht, aber ihre Hände waren nach ihm ausgestreckt. Es waren schlanke, sehr schmale Hände. Die Hände eines Mädchens oder einer jungen Frau, die so zerbrechlich wie Puppenglieder wirkten und von denen er trotzdem wußte, welch enorme Kraft sie hatten. Eine tödliche, mörderische Kraft, die nur auf ein einziges Ziel gerichtet war.
»He, Freundchen - was ist los mit dir?«
Er hörte, wie der Kellner näher kam. Seine Stimme klang jetzt ziemlich verärgert, und Mark flehte, daß er es auch wirklich war, daß er sich beeilte und ihn erreichte, ehe sie es tat, ehe diese schrecklichen Hände ihn berühren konnten. Die Gestalt ohne Gesicht war jetzt ganz nah, nur noch durch das Glas der Fensterscheibe von ihm getrennt, ihre Hände näherten sich ihm, berührten das Glas und glitten hindurch, ohne daß es einen sichtbaren Widerstand gab, tauchten hinein wie in transparentes Quecksilber, kleine, runde, sich kreuzende Wellenkreise erzeugend, doch was auf seiner Seite wieder aus dem Glas auftauchte, das waren keine weißen Porzellanfinger mehr, sondern schuppige Teufelsklauen. Grobe Pranken mit einer Haut aus grünem Stahl und Krallen, die wie gezackte Rasierklingen blitzten und sich gierig nach seiner Kehle ausstreckten ...
Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, und die Berührung ließ die Illusion zerplatzen. Und das im wortwörtlichen Sinne: Das Bild auf dem Glas vor ihm zerbrach in Tausende von Splittern, die lautlos in alle Richtungen davonflogen. Die tödlichen Krallen zerbarsten und lösten sich auf. Das Fenster war wieder ein Fenster, hinter dem die nächtliche Landschaft vorüberrollte.
Mark sah hoch und blickte in ein breitflächiges, müdes Gesicht, dessen Augen vor kaum noch verhohlener Wut funkelten. Aber nur für einen Sekundenbruchteil. Was immer der Kellner in seinem Gesicht sah, es ließ aus dem Ärger in seinem Blick Erschrecken und gleich darauf Bestürzung werden.
Hastig nahm er die Hand von Marks Schulter. »Ist alles in Ordnung?« fragte er.
Mark hätte ihn vor Erleichterung umarmen können. Sein Herz hämmerte, er zitterte am ganzen Leib und spürte erst jetzt, daß ihm lauwarmer Kaffee auf den Schoß tropfte, und trotzdem fühlte er sich so erleichtert wie niemals zuvor. Es war nur ein Traum gewesen, aber Mark war nicht sicher, ob es auch so geblieben wäre, hätten diese furchtbaren Hände ihn berührt.
»Schon gut«, sagte er. »Ich war... ein bißchen ungeschickt. Tut mir leid wegen der Decke.« Irgend etwas kratzte an der Scheibe hinter ihm, wahrscheinlich nur ein Regentropfen, aber vielleicht auch stahlharte Fingernägel, die über das Glas scharrten. Mark wagte es nicht, hinter sich zu blicken, aber er sah aufmerksam
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