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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zu sein. Er grub tiefer in seinem Gedächtnis - und prallte so entsetzt zurück, als hätten seine tastenden Hände eine glühende Herdplatte berührt. Da ZDU etwas... etwas Weißglühendes, Scheußliches, das wie eine Spinne im Zentrum ihres unsichtbaren Netzes hockte und darauf wartete, daß er einen der klebrigen Fäden berührte.
    »Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht.«
    Der Schrecken ließ seine Stimme aggressiv klingen, das spürte er selbst. Dabei war das letzte, was er wollte, unhöflich oder gar grob zu sein. Er hatte seine zufällige Reisebegleiterin ohnehin schon in eine peinlichere Situation gebracht, als ihm lieb war.
    »Entschuldigung«, sagte er noch einmal.
    »Sie müssen sich nicht ununterbrochen entschuldigen, junger Mann«, antwortete sie. »Es ist nichts Schlimmes daran, Gefühle zu haben.«
    Mark schwieg, aber er betrachtete sie jetzt das erste Mal genauer. Die Frau war nicht so alt, wie er im ersten Moment angenommen hatte - allerhöchstens vierzig —, aber ihr Gesicht und vor allem ihre Augen hatten etwas Mütterliches, das sie älter erscheinen ließ, und Mark begann sich zu fragen, ob es vielleicht nicht doch ein Fehler gewesen war, höflich sein zu wollen. Übertriebene Beschützerinstinkte und - wenn auch unbeabsichtigte - Aufdringlichkeit gingen meistens Hand in Hand. Er brauchte jetzt niemanden, der in seinem Seelenleben herumkramte. Aber er hatte mittlerweile auch lange genug geschwiegen, um das Gespräch endgültig zu unterbrechen. Und wieder breitete sich Peinlichkeit zwischen ihnen aus. Als sie diesmal übermächtig zu werden drohte, stand die Frau auf und nahm einen kleinen Handkoffer von der Gepäckablage. »Es wird Zeit«, sagte sie. »Ich muß an der nächsten Station raus.«
    Das stimmte nicht. Bis zum nächsten Bahnhof war es noch eine gute halbe Stunde, wie Mark mit einem unauffälligen Blick auf die Uhr feststellte. Sie wollte einfach raus aus diesem Abteil und vor allem aus der Nähe dieses unheimlichen Burschen, der im Schlaf schrie und im übrigen wohl auch alles andere als vertrauenerweckend aussah. Marks letzter Friseurbesuch war ein Jahr her. Er trug einen viel zu großen grünen Parka mit einem Motörhead-Aufnäher auf dem rechten Ärmel, abgewetzte blaue Jeans und feste Schuhe, die bei flüchtigem Hinsehen und mit andersfarbigen Schnürsenkeln durchaus als Rep-Knobelbecher durchgegangen wären. Dieses Outfit symbolisierte keineswegs irgendeine Weltanschauung, sondern trug nur seiner ursprünglichen Planung Rechnung, zu Fuß zum Bahnhof zu gehen. Aber er konnte sich gut vorstellen, welchen Eindruck es zusammen mit seinem übermüdeten Gesicht und seinem seltsamen Benehmen machte.
    Um ein Haar hätte er sie gebeten, zu bleiben, denn plötzlich hatte er fast panische Angst davor, allein zu sein. Er könnte wieder einschlafen, und dann würde vielleicht der Traum zurückkommen, und diesmal wäre niemand da, um ihn zu wecken. Mark war sogar ziemlich sicher, daß sie geblieben wäre, hätte er sie darum gebeten. Aber er hatte nicht den Mut dazu, und so blieb er nur wortlos sitzen und verabschiedete sich mit einem ebenso stummen Nicken, als sie das Abteil verließ.
    Mark verfluchte sich in Gedanken für seine Feigheit. Vielleicht hatte Prein ja recht, und er war tatsächlich ein Feigling, zumindest aber nicht besonders klug. Er sah auf die Uhr. Fast halb drei. Seit nicht ganz zweieinhalb Stunden war er nun also volljährig, aber er begann sich zu fragen, ob er damit auch tatsächlich schlagartig erwachsen geworden war, und wenn, warum er sich dann eigentlich nicht so benahm. Pünktlich auf die Minute mit Überschreitung der magischen Achtzehn-Jahres-Grenze alle Brücken hinter sich abzubrechen und blindlings davonzustürmen war wohl eher ein Zeichen von kindlichem Trotz, nicht von Reife.
    Der Zug bewegte sich schnell und beinahe lautlos durch die Nacht. Sie mußten über flaches Land fahren oder zumindest durch eine sehr dünn besiedelte Gegend, denn er sah draußen kein einziges Licht. Dazu kam, daß es noch immer regnete und schwere Wolken den Himmel bedeckten; der Intercity hätte ebensogut durch einen endlos langen, unbeleuchteten T unnel fahren können. Und in gewisser Weise tat er das ja auch, nur daß er nicht die geringste Ahnung hatte, was ihn am Ende dieses Tunnels erwarten mochte. Er wußte, woher er kam - aus einem Leben, das er gehaßt hatte, zumindest während der letzten sechs Jahre, und das jeden Tag ein kleines bißchen mehr -, aber er wußte nicht, wohin

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